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Market View & Insights
Einst Motor des europäischen Wirtschaftswachstums, stottert die deutsche Wirtschaft heute, da das Land haushaltspolitische Risiken scheut, vor grossen Herausforderungen im Energiesektor steht und in punkto Digitalisierung noch zu unflexibel ist. Doch ein starker industrieller Kern, ein wachsender grüner Technologiesektor und eine sinkende Inflation lassen auf eine längerfristige Erholung hoffen.
Es lässt sich nicht leugnen: Die deutsche Wirtschaft steckt in Schwierigkeiten. Mit der niedrigsten Wachstumsrate aller Volkswirtschaften der Eurozone im Jahr 2023 und schwachen Aussichten auf eine Erholung im Jahr 2024 steht Deutschland am Rande einer Rezession. Die Gründe dafür sind vielfältig - und nicht ohne weiteres umkehrbar.
Da die Weltwirtschaft jedoch erste Erholungstendenzen aufweist, könnte auch Deutschland langsam wieder an Stärke gewinnen. Rund um den Globus kühlt sich die Inflation ab, das Konsumentenvertrauen erholt sich, Zinssenkungen sind wahrscheinlich.
"Die entscheidende Frage ist", so Wolfgang von Hessling, Chefökonom EMEA bei LGT Private Banking, "ob die deutsche Politik tatsächlich Anpassungen umsetzen kann, die nötig wären um einerseits der schwächelnden Ökonomie wieder in Richtung ihres Trendwachstums zu verhelfen, und andererseits deren künftiges Wachstumspotential wieder stärker anziehen zu lassen."
Deutschland hat im wahrsten Sinne des Wortes den Anschluss verpasst
Das Hauptproblem ist der Einbruch der deutschen Industrieproduktion. Jetzt zeige sich, wie tiefgreifend der Verlust der deutschen Wettbewerbsfähigkeit sei. "Diese konjunkturelle Flaute ist nicht nur ein kurzfristiges Problem", sagt von Hessling. "Seit fünf Jahren schrumpft die deutsche Industrie im Schnitt um 1,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr." Das war schon vor der Pandemie so, vor dem Krieg in der Ukraine und vor dem erheblichen Anstieg der Energiekosten.
"Deutschland hat im wahrsten Sinne des Wortes den Anschluss verpasst", so von Hessling. Die Investitionen hätten mit der Entwicklung der Fertigungstechnik und der Digitalisierung nicht Schritt gehalten. Deutschland, lange Zeit als industrielles Kraftzentrum mit modernster Technik und riesigen Fabriken bekannt, hat die günstigen Finanzierungsmöglichkeiten nach der globalen Finanzkrise nicht genutzt und damit seine Wettbewerbsfähigkeit nicht sichergestellt. Im Automobilsektor ist Deutschland bei der Entwicklung und dem Verkauf von Elektrofahrzeugen weit hinter die USA zurückgefallen. Auch die wachsende Konkurrenz durch junge chinesische Automobilhersteller macht sich hier bemerkbar.
Ein Bereich, in dem die deutsche Ingenieurskunst nach wie vor glänzt, ist die Einführung grüner Technologien. Die deutsche Regierung hat grosse Anstrengungen unternommen, um das Land von fossilen Brennstoffen unabhängig zu machen. Dies erforderte und erfordert erhebliche Investitionen in erneuerbare Energien, um den Übergang zu einer CO2-armen Wirtschaft zu ermöglichen.
In einem Land, das zu Beginn des Kriegsgeschehens in der Ukraine feststellen musste, dass seine Abhängigkeit von russischem Erdgasviel zu gross war, ist dies zwar eine äusserst willkommene Entwicklung, doch die Bereitstellung erneuerbarer Energien erfordert eine völlig andere Energieinfrastruktur als die für Öl und Gas. Da Deutschland noch nicht über eine solche Infrastruktur verfügt, erweist es sich als schwierig, Importgas durch heimische erneuerbare Energien zu wettbewerbsfähigen Preisen zu ersetzen. Das Ziel einer nachhaltigen, sicheren und kostengünstigen Energieversorgung ist daher noch in weiter Ferne. Mit sinkenden Energiepreisen könnte auch der politische Wille schwinden, eine kohlenstofffreie Zukunft zu erreichen.
Die deutsche Politik scheint sich der Dringlichkeit von Strukturreformen bewusst zu sein. Dennoch wurde ihr Versuch, ungenutzte Corona-Haushaltsmittel in Höhe von 69 Milliarden Euro zugunsten des Klima- und Transformationsfonds (KTF) umzuschichten, um damit die Industrie zu modernisieren und den Übergang zu umweltfreundlichen Energien zu fördern, im November 2023 durch das Bundesverfassungsgericht gestoppt. Dadurch klafft im Haushalt 2024 eine Lücke von 17 Milliarden Euro, und die daraus resultierende Haushaltssperre bedeutet, dass die Mittel für die versprochenen Chip- und Batteriefabriken und viele andere Modernisierungsprojekte auf Eis liegen.
Die Wiederbelebung der deutschen Industrie erfordert politischen Willen und sehr viel Geld - dennoch ist das Bild weniger negativ, als man erwarten könnte. Der "Mittelstand", bestehend aus selbständigen, oft mittleren und kleinen Unternehmen, die 60 Prozent der deutschen Arbeitnehmer beschäftigen und den grössten Anteil am Bruttoinlandsprodukt des Landes erwirtschaften, ist in Bezug auf Marktanteile und Exportfähigkeit immer noch vorne mit dabei. Diese oft in Familienbesitz befindlichen Unternehmen geniessen einen gewissen Schutz vor dem kurzfristigen Gewinnmaximierungsdruck der Börse; seit Jahrzehnten entstehen hier grosse technologische Innovationen. "Dieser Sektor ist tief in der deutschen Wirtschaft verwurzelt; mit den richtigen Anreizen dürfte er sich neu beleben lassen", merkt Wolfgang von Hessling an.
Die notorische deutsche Bürokratie mit ihren Papierbergen ist eines der grössten Ärgernisse deutscher Unternehmer.
Man könnte beispielsweise bei der notorischen deutschen Bürokratie und ihren Papierbergen ansetzen. Ein Abbau der Bürokratie und eine entsprechende Digitalisierung würden eines der grössten Ärgernisse deutscher Unternehmer beseitigen.
Genauso wichtig, und vielleicht manchmal übersehen, ist jedoch die allgemeine Abhängigkeit von der Regulierung. Die Steuern sind hoch. Die staatliche Kreditaufnahme ist begrenzt. Es gibt einen Fachkräftemangel, der durch die Vollbeschäftigung, die aber nicht immer produktiv ist, noch verstärkt wird. Wenn die restriktive Haushaltspolitik gelockert würde, könnten die seit langem aufgeschobenen Investitionen in die verfallende physische Infrastruktur wie Strassen, Schienen und Schulen wieder in Gang kommen.
Sichtbare Veränderungen könnten das Vertrauen der Konsumentinnen und Konsumenten nach den Belastungen der vergangenen Jahre (Anstieg der Energiepreise und Teuerung) wiederherstellen. Der deutsche Aktienindex DAX bewegt sich derzeit im Umfeld historischer Höchststände, was den Schluss nahelegt, dass der Konjunkturpessimismus die Talsohle erreicht hat und wieder Raum für Vertrauen besteht.
"Anders als insbesondere in den USA war die fiskalische Reaktion auf Corona in Deutschland eher verhalten. Dies ist einer der Gründe, weshalb die Konsumausgaben in den USA anhaltend kräftiger ausfielen", erklärt Wolfgang von Hessling. "Ich will nicht verkünden, dass das Konsumentenvertrauen in Deutschland seinen Tiefpunkt erreicht hat - möglicherweise liegt das Schlimmste jedoch hinter uns." Richtig ist auch, dass der Konsum in den USA eine wichtigere Rolle spielt. Zwei Drittel der US-amerikanischen Wirtschaft sind konsumabhängig, während er in Deutschland nur die Hälfte des BIP ausmacht.
Und schliesslich könnte das wirtschaftliche Gesamtumfeld in Europa dem Wachstum in Deutschland allmählich neuen Schwung verleihen. Die Inflation ist deutlich rückläufig und dürfte vermutlich noch weiter zurückgehen. Prognosen zufolge wird die Europäische Zentralbank im Laufe des Jahres einen Zinsschnitt vornehmen. "Die Leitzinssenkungen könnten in Europa aggressiver ausfallen als in den USA", merkt Wolfgang von Hessling an. "Dies dürfte der Investitionstätigkeit in Deutschland zugutekommen."
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