- Home
-
Private Banking
-
Market View & Insights
Die neoliberale Wirtschaft mit ihren deregulierten Märkten habe es nicht vermocht, Wohlstand für alle zu schaffen - kritisiert der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz. Sein Gegenmittel: mehr staatliche Eingriffe.
Wenn Informationen unter den Teilnehmenden einer Transkation ungleich verteilt sind, verzerrt dies vermeintlich effiziente Märkte und verschafft einigen unfaire Vorteile. Das hat Joseph Stiglitz gezeigt und dafür 2001 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhalten. Seine feste Überzeugung, dass der Staat die Ressourcenallokation des Marktes "fast immer" verbessern kann, hat ihn allerdings in Konflikt mit vielen Mainstream-Ökonominnen und Ökonomen, aber auch mit dem US-Finanzministerium und sogar mit dem Weissen Haus gebracht.
Stiglitz löst immer wieder Kontroversen aus. Während ihn die Linken dafür loben, dass er die wirtschaftliche Ungleichheit bekämpfen will, erntet er von den Rechten Kritik - insbesondere von den Anhängerinnen und Anhängern der intellektuellen Väter des Neoliberalismus wie Friedrich von Hayek und Milton Friedman. Sie werfen Stiglitz vor, die vielen Fälle von Staatsversagen herunterzuspielen.
Stiglitz hält wirtschaftspolitische Entscheidungen vor allem für eine Frage des Gewissens. In seinem 2015 erschienenen Buch "The Great Divide: Unequal Societies and What We Can Do About Them" argumentiert er, dass Ungleichheit eine Entscheidung ist und selbst Milliardärinnen und Milliardäre gerechtere Entscheidungen treffen können.
So bescheinigt er beispielsweise Warren Buffett ein reineres Gewissen als den meisten milliardenschweren Kapitalistinnen und Kapitalisten. "Wenn er sagt, dass es für ihn falsch ist, prozentual zu seinem Einkommen weniger Steuern zu zahlen als seine Sekretärin, klingt das für mich glaubwürdig", sagt Stiglitz.
Dennoch will Stiglitz den Kapitalismus nicht stürzen, sondern ihn vielmehr retten. Er glaubt, dass "Märkte mit privatem Unternehmertum das Herzstück jeder erfolgreichen Wirtschaft darstellen, aber [...] grenzenlose Märkte sind nicht effizient, stabil oder fair". Um "den Kapitalismus vor sich selbst zu retten", schlägt er einen "progressiven Kapitalismus" vor.
Stiglitz' ausgeprägtes soziales Bewusstsein geht auf seine Kindheit zurück. Er kam 1943 in Gary, Indiana, zur Welt - einer Industriestadt, die einst für ihre riesigen Stahlwerke berühmt war. Die Folgen des industriellen Niedergangs erlebte er hautnah mit: Arbeitslosigkeit, Armut und ein hohes Mass an Ungleichheit.
Seine Eltern entstammten der Mittelschicht. Früh ermutigten sie ihn, sich gesellschaftlich und sozial zu engagieren. Bis heute erinnert sich Stiglitz an einen entscheidenden Moment in seinem Leben: Am 28. August 1963 war er unter den 250’000 Menschen, die sich vor dem Lincoln Memorial in Washington DC versammelten und Martin Luther King sagen hörten: "Ich habe einen Traum".
Kings Rede bestärkte ihn in seiner Entschlossenheit, zu erforschen, warum Märkte so oft versagen, wenn es darum geht, wirtschaftliche Gerechtigkeit zu schaffen.
Während seines Studiums am Amherst College und seiner Promotion in Wirtschaftswissenschaften am Massachusetts Institute of Technology (MIT) war Stiglitz überrascht von der Diskrepanz zwischen "den Modellen, die mir beigebracht wurden, und der Welt, in der ich aufwuchs".
Doch 1965 stiess er im Rahmen eines Fulbright-Stipendiums an der Universität von Cambridge auf die interventionistischen Ideen des legendären britischen Ökonomen John Maynard Keynes - endlich fand er ein Modell, das ihn überzeugte.
Doch wie schon Keynes hatte auch Stiglitz Mühe, die Aufmerksamkeit der US-Präsidenten zu gewinnen - und zu behalten.
Keynes wurde 1934 Präsident Franklin D. Roosevelt vorgestellt. Seinem Biographen zufolge gerieten sie aber rasch aneinander. Roosevelt fand Keynes zu abstrakt; Keynes warf dem US-Präsidenten vor, nicht genug zu unternehmen, um die USA aus der Grossen Depression zu führen.
Mit wenig Geduld für Widerspruch bleibt Stiglitzs Beharrlichkeit unbestritten.
Auch Stiglitz konnte sich mit seinen Ansichten nicht durchsetzen, als er in den 1990er Jahren Vorsitzender im Rat der Wirtschaftsberater des ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton war. So sprach er sich 1999 vehement gegen die Abschaffung des Glass-Steagall-Gesetzes aus, das seit Roosevelts Präsidentschaft das Geschäfts- vom Investmentbanking trennt. Seine Begründung: Eine Aufhebung würde die Banken dazu verleiten, zu viele Risiken einzugehen. Doch es gelang ihm nicht, Clinton von seinen Argumenten zu überzeugen.
Auch mit Clintons Finanzminister Lawrence Summers geriet er aneinander. Denn dieser hatte andere Vorstellungen von "Marktregulierung" als er (und er setzte sich in der Regel durch). Als der damalige Präsident der Weltbank, James Wolfensohn, Stiglitz 1999 nicht wieder zum Chefökonom der internationalen Institution ernannte, war dieser sich sicher, dass Summers dahinter steckte - ein Vorwurf, den sein Kontrahent zurückwies.
Er ist seit 2001 Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Columbia University und hat verschiedene Positionen an französischen und britischen Universitäten inne. Seine Ideen sind bei den politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern in Europa auf fruchtbaren Boden gefallen. So beriet Stiglitz etwa die britische Labour-Partei (als Jeremy Corbyn 2015 ihr Vorsitzender wurde) und die griechische Regierung während der Schuldenkrise 2010.
Darüber hinaus hat Stiglitz unter den G20-Staaten Anhängerinnen und Anhänger gewonnen. Der Grund: Er erklärte, das globale Wirtschaftssystem wende sich gegen sie. Schonungslos kritisierte er auch die Politik seines früheren Arbeitgebers, der Weltbank, und des Internationalen Währungsfonds. Deren Massnahmen "machen die Dinge oft noch schlimmer", behauptet er.
Selbst einige seiner intellektuellen Verbündeten lassen durchblicken, dass Stiglitz zwar in der Sache oft Recht hat, aber zu voreiligen Schlüssen neigt. Andere attestieren ihm zwar einen "überragenden Intellekt", werfen ihm aber Arroganz vor.
Während Stiglitz wenig Geduld mit denen zu haben scheint, die ihm widersprechen, ist seine Beharrlichkeit - und Konsequenz - unbestritten.
Sein neustes Buch (und er hat Dutzende verfasst) verkündet eine altbekannte Botschaft. Der Titel "Der Weg zur Freiheit: Ökonomie für eine gerechte Gesellschaft“ ist eine Anspielung auf Friedrich August von Hayeks "Der Weg zur Knechtschaft", das erstmals 1944 veröffentlicht wurde.
Doch während Hayek vor der Gefahr der Tyrannei warnte, die sich "unweigerlich aus der staatlichen Kontrolle wirtschaftlicher Entscheidungen ergibt", fragt sich Stiglitz, was passiert, wenn die Freiheit eines Menschen jene eines anderen tangiert. Zudem stellt er das Mantra in Frage, wonach der Neoliberalismus seinen Alternativen moralisch überlegen ist.
"Die Botschaft an die Demokraten ist klar: Ihr müsst die neoliberale Wirtschaftspolitik über Bord werfen", schrieb er in einem weit verbreiteten Meinungsartikel nach dem Sieg von Präsident Trump bei den jüngsten US-Wahlen. Er macht den Neoliberalismus für eine "beispiellose Ungleichheit" verantwortlich und fordert die Partei auf, eine neue Vision für die Gesellschaft und eine neue Wirtschaft mit "neuen Regeln und neuen Aufgaben für die Regierung" zu entwickeln.