The Strategist

Draghi-Bericht: EU ohne Reformen und Investitionen existenziell bedroht

Die Europäische Union hat als bisher weltweit wettbewerbsfreudigste Volkswirtschaft ein Problem: ihre Hauptwettstreiter, China und die USA, wollen das Spiel nicht mehr spielen. Mario Draghi, ein Grandseigneur der EU-Politik, dem als ehemaliger Chef der Europäischen Zentralbank die Rettung des Euro zugeschrieben wird, analysiert in seinem Bericht "The future of European competitiveness" die wirtschaftliche Verletzlichkeit Europas und rät der EU zu massiven Reformschritten - eine Zusammenfassung.

Datum
Autor
Dominique Stutz, LGT
Lesezeit
10 Minuten

Mario Draghi
© Shutterstock

Seit Jahrzehnten sieht sich Europa mit einer schleichenden Erosion seiner Wettbewerbsfähigkeit konfrontiert. Der wirtschaftliche Niedergang ist keine plötzliche Entwicklung, sondern das Ergebnis eines anhaltenden Produktivitätsrückgangs, der bereits seit der Jahrtausendwende beobachtet wird. Während des grössten Teils dieses Zeitraums wurde die Verlangsamung des Wirtschaftswachstums aber noch nicht als dramatisch empfunden. Denn nach wie vor konnte Europas Exportindustrie Marktanteile in schnellwachsenden Teilen der Welt - insbesondere in Asien - gewinnen, mehr Frauen drängten in den Arbeitsmarkt, die Arbeitslosigkeit hatte sich nach den Krisen von 2008 bis 2012 verringert und Europa profitierte lange Zeit von einem günstigen globalen Umfeld. Doch die Ära des freien Welthandels und des schnellen Wachstums scheint vorbei zu sein. Die EU sieht sich unterdessen mit stärkeren und neuen Konkurrenten, einem schlechteren Zugang zum Welthandel und dem Verlust ihres wichtigsten Energielieferanten Russland konfrontiert.

Ein zentraler Faktor, der im Bericht von Draghi betont wird, ist die Innovationsschwäche Europas. Während in den USA und China kontinuierlich neue Tech-Giganten entstehen, verharrt Europa in traditionellen Industrien ohne nennenswerte Neugründungen, die den Markt revolutionieren könnten. Ein eindrucksvolles Beispiel: Kein EU-Unternehmen mit einer Marktkapitalisierung von über 100 Milliarden Euro entstand in den letzten 50 Jahren aus dem Nichts, während alle sechs US-Unternehmen mit einer Bewertung von über 1 Billion Euro in diesem Zeitraum entstanden sind. 

Die EU muss sich laut dem Ex-EZB-Chef und ehemaligen Premierminister Italiens radikal verändern, um durch Wachstum und Produktivität weiterhin ihre Grundwerte Wohlstand, Gerechtigkeit, Freiheit, Frieden und Demokratie in einer nachhaltigen Umwelt zu gewährleisten und damit ihre Daseinsberechtigung zu bewahren. Die Lösung, so Draghi, sei eine neue Industriestrategie, die öffentliche und private Investitionen um 800 Milliarden Euro pro Jahr - oder um 4.7% des gesamten BIP der Eurozone - erhöhen und damit das Wachstum ankurbeln soll. Dabei denkt er im Kern seiner politischen Empfehlungen und deren Finanzierung an gemeinsame Anleihen der EU. 

Drei Hauptbereiche für Massnahmen zur Wiederbelebung des Wachstums

Der Bericht strukturiert seine Empfehlungen in drei Hauptbereiche: Innovation, Dekarbonisierung und Sicherheit. Diese Bereiche, so wird argumentiert, seien untrennbar miteinander verbunden, da technologische Innovation nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie auf einer nachhaltigen und sicheren wirtschaftlichen Basis aufbaut.

1. Schliessen der Innovationslücke

In keinem Bereich ist Europas Rückstand deutlicher als in der Tech-Branche. Während die USA und China im digitalen Sektor führend sind, hinkt Europa hinterher. Ein Beispiel: Von den 50 weltweit führenden Technologieunternehmen stammen nur vier aus Europa. Der Bericht hebt hervor, dass Europa bei zukünftigen Technologien wie Künstlicher Intelligenz (KI) und Quantencomputing dringend aufholen muss.

An Ideen oder Ehrgeiz fehlt es in Europa oder der EU nicht. Innovationen werden jedoch auf der nächsten Ebene durch uneinheitliche und restriktive Vorschriften behindert. Vor diesem Hintergrund verlegten beinahe 30% der in Europa gegründeten "Einhörner"-Start-ups, die später einen Wert von über 1 Milliarde US-Dollar erreichten, ihren Hauptsitz ins Ausland - die grosse Mehrheit davon in die USA. Der Bericht betont, dass Europa seine Tech-Startups besser finanzieren und ihnen ein Umfeld bieten muss, in dem sie wachsen können. Dies erfordert unter anderem eine Harmonisierung der EU-Kapitalmärkte, damit europäische Unternehmen nicht länger gezwungen sind, in den USA nach Investoren zu suchen.

Die Finanzierung von Forschung und Innovation ist in der EU stark fragmentiert: Während die USA einen Grossteil ihrer Innovationsausgaben zentral auf Bundesebene verwalten, wird in der EU nur etwa ein Zehntel der Forschungs- und Innovationsausgaben auf Unionsebene koordiniert und führt zu einer ineffizienten Verteilung von Ressourcen. Ausserdem sind Unternehmen in der EU auf ausgereifte Technologien spezialisiert und gaben im Jahr 2021 270 Milliarden Euro weniger für Forschung und Innovation aus als ihre US-amerikanischen Konkurrenten. Die Top-3-Investoren in Forschung und Innovation in Europa waren in den letzten 20 Jahren Automobilunternehmen. Dies war in den USA in den frühen 2000er Jahren genauso zusammen mit der Pharmaindustrie. Heute sind jedoch alle Top-3-Investoren der USA im Technologiesektor.

2. Dekarbonisierung als Chance und Herausforderung

Dekarbonisierung und Wettbewerbsfähigkeit müssen Hand in Hand gehen - eine der zentralen Thesen des Berichts. Europas Energiekrise, verschärft durch den Wegfall russischer Gaslieferungen, hat gezeigt, dass die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen langfristig nicht tragfähig ist. Zwar sind die Energiepreise von ihren Höchstständen zurückgegangen, aber sie bleiben zwei- bis dreimal so hoch wie in den USA. Die globale Dekarbonisierung ist eine Wachstumschance für die EU-Industrie. Die EU ist weltweit führend bei "sauberen Technologien" wie Windturbinen, Elektrolyseuren und kohlenstoffarmen Kraftstoffen, und mehr als ein Fünftel der sauberen und nachhaltigen Technologien der Welt werden hier entwickelt.

Kurzfristig schlägt der Bericht vor, die Energiepreise durch gezielte Reformen und den Ausbau erneuerbarer Energien zu senken. Langfristig soll die EU ihre Führungsrolle im Bereich der grünen Technologien stärken, insbesondere durch Investitionen in Windkraft, Elektrolyseure und nachhaltige Kraftstoffe. Doch der Wettbewerb mit China, das durch massive Subventionen und Kontrolle über Rohstoffe dominiert, wird härter. Ein unkoordiniertes Vorgehen in der EU könnte dazu führen, dass Europa den Anschluss verliert.

3. Sicherheit und die Reduktion von Abhängigkeiten

Die dritte Säule der Strategie betrifft Europas wirtschaftliche und geopolitische Sicherheit. Hier stellt der Bericht eine alarmierende Diagnose: Europa ist in zahlreichen strategisch wichtigen Bereichen - von kritischen Rohstoffen bis hin zu digitalen Technologien - stark abhängig von anderen Ländern, insbesondere China. Diese Abhängigkeiten sind in einer zunehmend multipolaren Welt riskanter, wie die jüngsten geopolitischen Krisen verdeutlicht haben.

Die aussenwirtschaftliche Strategie soll nicht nur auf den Abschluss neuer Handelsabkommen abzielen, sondern auch die Versorgung mit kritischen Rohstoffen sichern, unter anderem durch den Aufbau von Lagerbeständen und die Förderung von Recyclingtechnologien. Im Technologiesektor müsse Europa zudem seine Abhängigkeit von asiatischen Chip-Lieferanten verringern und die eigene Halbleiterproduktion ausbauen - ein Projekt, das durch das EU-Chips-Gesetz vorangetrieben werden soll.

Der Frieden ist Europas erstes und wichtigstes Ziel. Die physischen Sicherheitsbedrohungen nehmen zu. Die EU als Ganzes ist zwar der zweitgrösste Militärherausgeber der Welt, doch auch die Verteidigungsindustrie ist zersplittert. Zum Beispiel setzt Europa zwölf verschiedene Typen von Kampfpanzern ein, während die USA nur einen einzigen produzieren.

Schnell umsetzbare Vorschläge

Draghi will kein Wunschdenken, sondern konzipiert seine Vorschläge für die verschiedenen Schlüsselsektoren schnell umsetzbar. Im Automobilsektor etwa wird darauf hingewiesen, dass Europa seine Führungsrolle nur behaupten kann, wenn es die Transformation hin zur Elektromobilität beschleunigt und gleichzeitig die Kreislaufwirtschaft stärkt. Hier wird besonders auf die Rolle von IPCEIs (Important Projects of Common European Interest) verwiesen, um länderübergreifende Projekte zu fördern. Oder ein weiteres Beispiel seiner Vorschläge aus dem Technologiesektor, wie die EU ihren Rückstand bei Halbleitern aufholen kann: Kurzfristig sollten europäische Unternehmen stärker bei Forschung und Entwicklung unterstützt werden, während mittelfristig die Produktion von High-End-Halbleitern in der EU aufgebaut werden muss, um die Abhängigkeit von asiatischen Produzenten zu verringern.

Ein gemeinsamer Weg nach vorne

In vielen Bereichen handeln die EU-Mitgliedstaaten bereits individuell und die Industriepolitik ist auf dem Vormarsch. Doch es ist offensichtlich, dass Europa hinter dem zurückbleibt, was erreicht werden könnte durch das Handeln als Gemeinschaft, sagt Draghi. Eine koordinierte Strategie, die Innovation, Nachhaltigkeit und Sicherheit vereint, könnte Europa helfen, verlorenen Boden gutzumachen. Entscheidend wird gemäss Draghi sein, dass die EU-Mitgliedstaaten ihre Bemühungen bündeln, gemeinsam voranschreiten, anstatt auf nationale Alleingänge zu setzen und somit keine gemeinsamen Ressourcen verschwenden.

Gedankenexperimente

Aus unserer Sicht müssen sich die Analyse und vor allem die Vorschläge Draghis erstmal der eiskalten politischen - und typisch europäisch-bürokratischen und fiskalpolitischen - Realität stellen. Auch wenn eine Umsetzung der Vorschläge längerfristig positiv für europäische Vermögenswerte sein sollte, wäre es zu diesem Zeitpunkt spekulativ, Investmententscheidungen auf diesem Bericht zu basieren. Eine Umsetzung von Euro-Anleihen im grossen Stil erachten wir als unwahrscheinlich. Bis zur Konkretisierung der Pläne auf politischer Ebene ziehen wir es vor, einen genaueren Blick auf wichtige Fundamentaldaten wie den europäischen Konsum, den Aussenhandel oder die Leistung des verarbeitenden Gewerbes zu werfen, um Anlageentscheidungen zu treffen.

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