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Market View & Insights
Diese Publikation ist weit mehr als die Stimme der Wall Street.
In der Redaktion des «Wall Street Journal» kursiert ein Bonmot. Es lautet: «Der Hauptgrund, warum wir Abonnenten verlieren, ist: Sie sterben.» Hinter dieser flapsigen Bemerkung steckt ein Fünkchen Wahrheit, gelten die 3,4 Millionen Bezüger des 1889 gegründeten Wirtschaftsblattes doch als äusserst loyal. Die Schattenseite dieser engen Bindung: Die Leserschaft des «Wall Street Journal» ist mehrheitlich männlich und überaltert, und damit keinesfalls repräsentativ für die amerikanische Bevölkerung. Trotz schwarzer Zahlen steckt das Blatt deshalb in der Klemme, hat es sich doch ambitionierte Wachstumsziele gesteckt und will wegkommen vom Image des Sprachrohrs der Wall Street.
Dabei ist das WSJ, wie die Publikation kurz und bündig genannt wird, schon lange keine gedruckte Version des Börsentickers mehr. In der englischsprachigen Zeitung, die von Montag bis Samstag erscheint, sind den Aktienmärkten höchstens drei Seiten im zweiten Faszikel gewidmet. Umrahmt werden diese Kursmeldungen von messerscharf formulierten Analysen («Heard on the Street»), trockenen Firmennachrichten und News aus der Welt der Unterhaltungselektronik.
Das Kernstück der Zeitung aber bildet der erste Bund, in dem eine Mischung aus politischen Nachrichten, wirtschaftlichen Berichten, Kommentaren und Alltagsgeschichten abgedruckt werden. Letztere sind es, die den Reiz des «Wall Street Journal» ausmachen. An einem Tag gibt die Kolumnistin Rachel Feintzeig Ratschläge für abgespannte Arbeitnehmer, die sich vor einer Rückkehr ins Büro fürchten. An einem anderen schreibt Elizabeth Bernstein über Schlafprobleme und Angstgefühle. Das sind Texte für Frauen und Männer, die mit beiden Beinen im Berufsalltag stehen.
Das Highlight der täglichen WSJ-Lektüre stellt der «A-Hed» dar: So wird seit bald 80 Jahren ein Frontartikel genannt, der sich einem skurrilen Thema widmet, für das es normalerweise in einer Tageszeitung keinen Platz hat. Ein Beispiel für eine Schlagzeile, aus diesem Frühjahr: «Der majestätische Weisskopfseeadler ist zurück – und er will Ihren kleinen Hund essen.» Illustriert wurde dieser «A-Hed» mit einer getüpfelten Illustration des Wappenvogels. Diese Zeichnungen waren lange das Aushängeschild des «Wall Street Journal», auch weil Fotos aus drucktechnischen Gründen bis zu Beginn der 2000er-Jahre eine Seltenheit darstellten.
In der Aussenwahrnehmung gilt das WSJ allerdings nicht als Ratgeberblatt, sondern als Speerspitze des Kapitalismus amerikanischer Prägung. Dafür verantwortlich sind der 90 Jahre alte Rupert Murdoch und der 65 Jahre alte Paul Gigot.
Murdoch ist seit 2007 der Besitzer der Tageszeitung; damals kaufte der gebürtige Australier das WSJ der Besitzerfamilie Bancroft ab. Und obwohl sich die schlimmsten Befürchtungen über den neuen Besitzer nicht bewahrheiteten, drückte Murdoch dem Blatt doch seinen Stempel auf. So wurde die Zeitung unter seiner Oberaufsicht Nachrichten-lastiger; ausschweifende Analysen bilden nun die Ausnahme. Auch widmet das Blatt sozialpolitischen Themen, wie der Debatte um systemischen Rassismus, weniger Platz als die Konkurrenz.
Gigot wiederum trägt seit 20 Jahren die Verantwortung für die drei «Opinion»-Seiten in der Tageszeitung, mit der das «Wall Street Journal» gemeinhin den ersten Faszikel abschliesst – eine Mischung aus unsignierten Meinungsartikeln, Kolumnen von bekannten Autorinnen wie Peggy Noonan und Gastbeiträgen. Die meisten dieser Artikel folgen der gleichen Linie: Der Staat ist schlecht, die Privatwirtschaft gut. Ab und zu mischt eine neue Stimme diesen rechten Meinungsbrei auf; Pluralismus aber duldet Gigot auf seinen Seiten nicht. Selbst intern treten aufgrund dieses harten Regimes bisweilen Unstimmigkeiten auf. So beschwerten sich WSJ-Reporter im vorigen Juni über einen Meinungsartikel des damaligen Vizepräsidenten Mike Pence, in dem dieser behauptet hatte, Amerika stehe keine «zweite Welle» von Corona-Infektionen bevor.
Es kam bekanntlich ganz anders. Gigot, der preisgekrönte Meinungsmacher, gab sich allerdings ungerührt. In einem (unsignierten) Meinungsartikel verwies er darauf, dass Newsroom und «Opinion Pages» strikt getrennt arbeiteten. Und er gab die Parole aus, dass es für Konformität und Intoleranz auf seinen Seiten keinen Platz habe – weil er sich nicht verbiegen will, um neue Leserinnen und Leser zu gewinnen.
Aufmacherbild: Alamy Stock Foto/Chris Batson
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