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Nachhaltigkeit

Vertical farming: Das Ernährungs­system der Zukunft?

Wie ernähren wir die nächste Milliarde Menschen? Das urbane "vertical farming" könnte die Antwort sein.

Datum
Autor
Simon Usborne, Gastautor
Lesezeit
10 Minuten

Infarm

Die meisten Hausköche kaufen einen Topf Basilikum und sehen dabei zu, wie die Pflanze auf der Fensterbank runzlig wird. Gelegentlich ernten sie ein paar Blätter für eine Pastasauce, bevor die Pflanze schliesslich aufgibt und stirbt. Im Jahr 2013 beschlich drei israelische Mitbewohner in Berlin das Gefühl, dass es einen besseren Weg geben muss, frische Lebensmittel drinnen anzubauen.

Osnat Michaeli, ihr Partner Erez Galonska und sein Bruder Guy begannen, auf YouTube nach Inspiration zu suchen. Dann stiessen sie auf Amazon und bestellten Bewässerungsschläuche, die sich bald durch die Räume ihrer Wohnung im mondänen Stadtteil Kreuzberg wanden.

Infarm urban vertical farming
Den drei Infarm Gründern ist gelungen, wovon viele Startups nur träumen. © Robert Rieger / Infarm


Sie bauten Spinat, Salat und Kräuter an und perfektionierten Hightech-Methoden zur Fütterung und Bewässerung der Pflanzen, sodass immer weniger im Kühlschrank und immer mehr frische Lebensmittel auf ihren Tellern standen.

Heute, sieben Jahre später, das Start-Up der drei Israelis 170 Millionen Dollar erhalten – dies in der letzten und grössten Investitionsrunde für sein "vertical farming" Netzwerk. Die Pflanzen des Startups namens Infarm werden nun in den Gängen einiger der grössten Lebensmittelketten der Welt wachsen; von Aldi Süd in Deutschland bis Safeway in Kanada, Kroger in den USA, Marks & Spencer und Selfridges in Grossbritannien. 

Landwirtschaft im Supermarkt

Der fulminante Aufstieg von der kleinen Berliner Wohnung zu den Regalen der Supermärkte beeindruckt auch Investoren – allen voran Lightrock, ein Schwesterunternehmen der LGT. Die Entwicklung spiegelt auch einen Wandel im globalen Lebensmittelsystem wider. Eine zunehmend urbanisierte Welt ringt darum, nachhaltigere Wege zu finden, eine wachsende Bevölkerung mit einem unstillbaren Appetit auf frische Lebensmittel zu ernähren.

Infarm urban vertical farming
Die Produkte dort anbauen, wo sie gebraucht werden: Vertical farming in Städten. © diephotodesigner.de / Infarm


"Selbst frische Produkte werden heute in der Regel über lange und ineffiziente Lieferketten transportiert", so Nigel McCleave von Lightrock in London. "Der Reiz eines solchen Unternehmens liegt darin, dass man die Produkte dort anbauen kann, wo man gerade ist. Das bedeutet für die Konsumenten ein besseres Erlebnis und für die Unternehmen einen effizienteren Beschaffungsprozess."

Infarm bringt die Landwirtschaft direkt in den Supermarkt. Seine markengeschützten Baueinheiten, in denen die Pflanzen wachsen und die auch in Lagerfarmen gestapelt werden können, sehen aus wie riesige Weinkühlschränke. Die Kunden können sehen, was darin wächst, und ernten, was sie wollen, einschliesslich Salat, Spinat, Basilikum und Thymian, aber auch Bok Choy, peruanische Minze und sogar Wasabi-Rucola.

Ohne Sonne und Erde

Die Pflanzen wachsen auf einer Wasserplattform, die keinen Boden benötigt, in modularen Einheiten mit sonnennachbildenden LED-Leuchten. Die Einheiten können leicht miteinander verbunden werden, um vertikale Farmen jeglicher Grösse zu schaffen. Dutzende von Sensoren überwachen Bewässerung, Nährstoffgehalt, Feuchtigkeit und Temperatur, die alle über Cloud ferngesteuert werden. Das zentrale Kontrollzentrum von Infarm nutzt die Daten seiner Einheiten, um die Anbaubedingungen im gesamten Netzwerk zu optimieren.

Infarm urban farming vertical
Infarm erntet mehr als 500'000 Pflanzen pro Monat. © diephotodesigner.de / Infarm


Infarm, das mittlerweile in mehr als 30 Städten in zehn Ländern tätig ist, erntet nach eigenen Angaben mehr als 500'000 Pflanzen pro Monat. Seine Einheiten benötigen 99.5% weniger Platz als die traditionelle Landwirtschaft, 95% weniger Wasser, 90% weniger Transport und keine chemischen Pestizide. 90% des Stroms, den das Netz verbraucht, stammt aus erneuerbaren Quellen.

Das neue Investment, das die Gesamtfinanzierung von Infarm auf mehr als 300 Millionen Dollar erhöht, wird dem Unternehmen helfen, seine Anlagen von 45'000 Quadratmeter bis Ende 2020 auf über 450'000 Quadratmeter bis 2025 zu vervielfachen. "Das wird uns helfen, einen wirklich globalen Impact zu erzielen, tausende Hektar Land und Millionen Liter Wasser zu sparen und letztlich die Art und Weise zu verändern, wie die Menschen anpflanzen, essen und Lebensmittel verstehen", so Erez Galonska, Mitbegründer und CEO von Infarm, nach der Bekanntgabe der Transaktion im September.

Pflanzen aus dem Luftschutzbunker

Die Idee von "vertical farming" oder "vertikaler Landwirtschaft" gibt es seit mindestens 20 Jahren. Im Jahr 1999 entwarf Dickson Despommier, Professor für öffentliche und Umweltgesundheit an der Columbia University in New York, eine Hochhausfarm, die gross genug sein sollte, um 50'000 Menschen zu ernähren.

Das Gebäude verliess nie das Zeichenbrett, aber es pflanzte einen Samen in den Köpfen der Innovatoren. Seitdem sind auf der ganzen Welt vertikale Farmen unterschiedlicher Art entstanden; das nicht immer für Menschen. Eine der frühesten vertikalen Farmen entstand im Paignton Zoo in Südwestengland und ernährte die Tiere.

Infarm urban vertical farming
In den grossen Supermärkten Europas angekommen. © Steve Ager / Infarm


Kleinere Projekte für Menschen wachsen oft in unerwarteten Räumen. Im Jahr 2015 begann Growing Underground mit der Produktion von Gemüse in einem verlassenen Luftschutzbunker aus dem Zweiten Weltkrieg, 33 Meter unterhalb der belebten Strassen von Clapham im Süden Londons. 

Kommerzielle "vertical farms" zu erbauen, die grosse Mengen zu erschwinglichen Preisen produzieren können, war für die Innovatoren eine grosse Herausforderung. Infarm steht an der Spitze einer neuen Generation von Farmen, die das Problem gelöst haben. "Ich denke, wir haben ein Modell entwickelt, das dem Markt gerecht wird", sagt Emmanuel Evita, Kommunikationsleiter bei Infarm.

Wie ernähren wir die nächste Milliarde Menschen?

Laut Evita spielt auch die globale Pandemie eine Rolle beim Aufkommen dieser neuen Investments. "Dieser Virus hat uns wirklich gezwungen, darüber nachzudenken, wie anfällig unsere Lieferketten sind und wie sehr wir den immer schneller wachsenden ökologischen Herausforderungen ausgesetzt sind", fügt er hinzu.

Sobald Lockdowns eingeführt wurden, setzte dieses Umdenken auf der ganzen Welt ein. Die Lieferanten von Kompost und Pflanzensamen hatten Mühe, die Nachfrage zu befriedigen, als die Menschen begannen, ihre Nahrungsmittel selbst anzubauen – sei das aus finanzieller oder emotionaler Notwendigkeit.

Vertical urban farming Infarm
Frischer Salat muss nicht aus dem Garten kommen. © Robert Rieger / Infarm


Die Ausbreitung von "vertical farming" in den Supermärkten widerspiegelt die wachsende Nachfrage nach frischen Lebensmitteln und urbanem Pflanzenanbau – und das Wissen um die Ursprünge unserer Nahrungsmittel. "Wir begrüssen diese neue Art von Transparenz, weil die traditionellen Lieferketten so undurchsichtig sind", fügt Evita hinzu.

Auch wenn Infarm dank neuen Investments floriert, ist "vertical farming" nur ein Reiskorn auf dem Schachbrett der globalen Landwirtschaft. "Wir müssen uns fragen, wie wir die nächste Milliarde Menschen auf nachhaltige Weise ernähren können", sagt McCleave. "Heute ist "urban farming" nur ein kleiner Teil der globalen Nahrungsmittelproduktion, aber sie hat das Potenzial, eine wichtige Rolle im Nahrungsmittelsystem von morgen zu spielen", sagt McCleave.

In Berlin führen Michaeli und die Galonska-Brüder heute ein wachsendes Agrarimperium mit einer wachsenden weltweiten Belegschaft von mehr als 600 Menschen. Sie planen nun, ihre Farmen um weitere Sorten zu erweitern, darunter auch Obst und Gemüse, die im Inneren schwieriger anzubauen sind. Das ist weit entfernt von ihren Experimenten vor nur sieben Jahren. Heute müssen sie sich keine Wohnung mehr teilen.

Impact investing

Lightrock, ein Partnerunternehmen der LGT, ist eine Impact-Investing-Plattform. Sie konzentriert sich auf skalierbare Unternehmen, die den Zugang zu besseren Lebensbedingungen ermöglichen.

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