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Finanzmärkte

Müssen wir uns auf eine Stagflation einstellen?

Man muss nicht hellsehen können, um die Zeichen zu erkennen: Weltweit ist das Wirtschaftswachstum rückläufig, während sich die Inflation hartnäckig auf einem hohen Niveau hält. Mit anderen Worten: Zwei wesentliche Bedingungen für eine Stagflation dürften nahezu erfüllt sein. Dies ist nicht ungefährlich.

Datum
Autor
Wendy Cooper, Gastautorin
Lesezeit
5 Minuten

Eine Grafik, in der eine Richtung abwärts und eine Richtung aufwärts verläuft und die sich kreuzen
Hohe Inflation und niedriges Wachstum sind charakteristisch für eine Stagflation. Die aktuelle Ausprägung des Phänomens dürfte "eine Mini-Episode" sein, meint LGT Chief Economist Wolfgang von Hessling. © istock/Nuthawut Somsuk

"Tatsache ist", sagt Wolfgang von Hessling, Chefökonom bei der LGT Bank Schweiz, "dass wir uns in einem stagflationären Umfeld befinden." Die aktuelle Stagflation hat jedoch wenig mit den durch Ölpreisschocks ausgelösten Stagflationen der 1970er- und 1980er-Jahre gemeinsam. Damals bewegte sich die Inflation in zweistelliger Höhe - die Volkswirtschaften glitten in eine Rezession ab und benötigten volle acht Quartale, um sich wieder zu erholen. Diesmal dürfte die Stagflationserfahrung eine ganz andere sein:

Die zuständigen Politikerinnen und Politiker haben ihre Lehren aus der Geschichte gezogen, es bestehen wirtschaftlich attraktive Lösungen auf der Angebotsseite und vor allem dank der Erholung des Arbeitsmarktes nach der Pandemie wird die heutige Version des Phänomens vermutlich "eine Mini-Episode" sein, meint von Hessling. "Wenn wir Glück haben, dauert es nicht länger als ein Jahr." Darauf deuten folgende Fakten hin:

Eine Stagflation ist ein Widerspruch in sich

Hohe Inflation und gleichzeitig geringes Wachstum sind charakteristisch für eine Stagflation (zumeist wird sie von zunehmender Arbeitslosigkeit und stagnierender Nachfrage ausgelöst). Anziehende Arbeitslosigkeit ist eher das dritte, begleitende Randkriterium für die Definition "Stagflation", weniger ein Auslöser. Auslöser für den  Inflationsschock sind entweder Angebots-Kollapse oder Nachfrage-Explosionen, diese Verwerfungen führen dann in zu schwachem Wachstum und anziehender Arbeitslosigkeit. Wolfgang von Hessling bezeichnet Stagflation daher als "Widerspruch in sich". Seiner Ansicht nach kann sich eine Stagflation nicht ewig fortsetzen. Dies gilt insbesondere im heutigen Wirtschafts- und Marktumfeld.

Menschen auf einer Hauptstrasse in einer Grosstadt
In der grössten Volkswirtschaft der Welt, den USA, herrscht nach wie vor ein deutlicher Arbeitskräftemangel. © Shutterstock/blvdone

Als Beispiel führt er unter anderem den bemerkenswert resilienten Arbeitsmarkt in den Vereinigten Staaten an. Im August wies das US Bureau of Labor Statistics in seinem Job Openings and Labor Turnover Summary (JOLTS-Bericht) für die USA insgesamt 9.61 Millionen Stellenangebote aus, deutlich mehr als im Juli (8.92 Millionen). Die Entlassungen hielten sich in Grenzen, während die Einstellungen zunahmen - und das, obwohl die Zinsen so rasch angehoben wurden wie seit Jahrzehnten nicht mehr. In der grössten Volkswirtschaft der Welt herrscht nach wie vor eindeutig ein Arbeitskräftemangel.

Natürlich lässt sich auch ein solider US-Arbeitsmarkt als potenzieller Inflationstreiber einstufen - und ebenso als Anreiz für weitere Leitzinserhöhungen seitens der US-Notenbank Federal Reserve. Allerdings "haben die Zentralbanken seit den 1970er-Jahren einiges dazugelernt. Sie sind umsichtiger geworden", wie Wolfgang von Hessling anmerkt.

Eine hochriskante strategische Reaktion

Wie viele Beobachter ist auch Wolfgang von Hessling zu der Ansicht gelangt, dass die Geldpolitik die aktuell hohen Leitzinsen beibehalten dürfte, bis sich die Inflation totgelaufen hat, anstatt laufend weitere Erhöhungen vorzunehmen. Die Politiker hoffen, dass sich die Nachfrage stetig abschwächt, wenn die Leitzinsen über längere Zeit auf einem hohen Niveau belassen werden.

Ein Mann mit Block und Stift in der Hand in einer Büroumgebung im Gespräch mit einer Person.
"Es besteht die Gefahr, dass sich die Inflationserwartungen in den Köpfen der Verbraucherinnen und Verbraucher verfestigen", sagt Wolfgang von Hessling. © Philip Böni

Diese Strategie hat durchaus heikle Aspekte, da sie sich im Wesentlichen auf robuste Arbeitsmärkte verlässt, um die Nachfrage nicht abrupt abzuwürgen und so eine rezessionäre "harte Landung" zu provozieren. Das beinhaltet durchaus erhebliche Risiken, wie die Daten bei genauerem Hinsehen offenbaren.

Wie der IWF anmerkt, sind die USA die einzige grosse Volkswirtschaft, die nach der Pandemie zu ihrem ursprünglichen Wachstumstrend zurückgefunden hat. Weltweit dürfte das Wirtschaftswachstum von rund 3.5 Prozent, so die Schätzung für 2022, auf 3 Prozent im Jahr 2023 zurückgehen und 2024 auf diesem Niveau verharren. Die grösste Volkswirtschaft Europas, Deutschland, hat noch immer mit den Nachwehen des Energiepreisschocks von 2022 zu kämpfen. Da deren wichtigsten Exportmärkte zudem keine Unterstützung boten, geriet das Wirtschaftswachstum dieses Jahr ins Stocken.

Es ist klar, dass es mittel- und langfristig keine Alternative zur Dekarbonisierung gibt.

Dr. Wolfgang von Hessling, Chief Economist Private Banking Europe

Selbst in den USA hemmt die restriktive Leitzinspolitik nahezu alle zentralen Wachstumstreiber, angefangen beim Konsum über das Anlegerverhalten bis hin zu den Staatsausgaben. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der aktuelle Konjunkturrückgang länger anhält.

Die dennoch relativ robuste Konjunktur in den USA beruht zudem grösstenteils auf dem Konsumverhalten der US-Bevölkerung; die Menschen geben weiterhin Geld aus, obwohl zu befürchten war, dass der Konsum einbrechen würde, sobald der pandemiebedingte Überhang an Sparmitteln abgebaut wäre. Zudem haben die jüngsten massiven steuerlichen Unterstützungspakete der US-Regierung das Wirtschaftswachstum deutlich angekurbelt.

Teuerung und kein Ende?

Auf der Angebotsseite wirken die Kosten der Energiewende und die Rückverlagerung der Produktion ins Inland als Inflationstreiber, während sich die Lieferketten an die geopolitischen Realitäten nach dem Ende der Pandemie anpassen. Parallel zu dieser Entwicklung belastet die Teuerung das Vertrauen der Konsumentinnen und Konsumenten - im September dieses Jahres erreichte es in den USA einen Vier-Monats-Tiefststand.

Obst und Gemüse in einem Supermarkt
Der Kerninflationsindex lag im September mehr als doppelt so hoch wie der Zielwert der Fed. Auch in anderen Ländern beschleunigt sich die Teuerung wieder. © Xinhua/Wang Ying/eyevine/laif

Der US-Verbraucherpreisindex (Consumer Price Index, CPI) lag im September um 0.4 Prozent über dem Vormonat und damit über den Erwartungen der Märkte. Der Index der Kerninflation (Core CPI) klammert die volatilen Energie- und Nahrungsmittelpreise aus. Er lag um 4.1 Prozent über dem Vorjahreswert - und fiel damit mehr als doppelt so hoch aus wie das Zwei-Prozent-Inflationsziel der Fed. Auch in anderen Ländern beschleunigt sich die Teuerung erneut. Dies löst Ängste vor längerfristig höheren Leitzinsen aus.

Wie Wolfgang von Hessling anmerkt: "Es besteht die Gefahr, dass sich die Inflationserwartungen in der Wahrnehmung der Verbraucherinnen und Verbraucher verfestigen." Seiner Ansicht nach ist das aktuelle Umfeld nicht wachstumsfreundlich. Vor allem in Europa spitzen sich die Probleme im Produktionssektor und in den exportorientierten Branchen aufgrund des Konjunktureinbruchs in China zu. Somit erhöht sich das Rezessionsrisiko auf dem gesamten Kontinent.

Kein übermässig langes Anhalten der Stagflation

Luftbild eines Parkplatzes im städtischen Grüngürtel
Die Kosten der Energiewende sind Inflationstreiber, aber langfristig eine gute Investition. © istock/Chun han

Selbst in diesem Fall geht Wolfgang von Hessling aktuell nicht von einer langwierigen Stagflation aus. "Die Wirtschaftsakteure werden die Probleme auf der Angebotsseite lösen, indem sie die Produktionskapazitäten ausbauen und die Innovationsfähigkeit stärken, da sich dies für sie rechnet", erläutert er. "Die Kosten der Energiewende sind Inflationstreiber, langfristig handelt es sich aber um eine gute Investition. Ausserdem ist es klar, dass es mittel- bis langfristig keine Alternativen zur Dekarbonisierung gibt."

Gleichermassen "sehen wir" auf der Nachfrageseite "genau das, was die Zentralbanken erreichen wollten: Ihre Leitzinspolitik dämpft die Nachfrage. Zwar belastet sie damit auch das Wachstum und ist grenzwertig, was die Rezessionsrisiken angeht, aber der Arbeitsmarkt vermag sich bis jetzt recht gut zu halten. Derzeit arbeiten wir den (in Folge der Pandemie aufgetretenen) Nachfrageüberhang ab."

US-Dollarnoten auf dem Boden werden mit Schaufel und Besen aufgekehrt
Erstmals seit Jahrzehnten gilt wieder die Maxime "Cash is not Trash" bzw. "Bargeld lacht (wieder)". © Shutterstock/spixel

Die Stagflation ist bereits Realität, doch nach einem Jahr mit gedämpftem Wirtschaftswachstum, meint Wolfgang von Hessling, sei es beim derzeitigen Stand der Dinge "nicht sehr wahrscheinlich, dass eine katastrophale Rezession oder ein massiver Zusammenbruch bevorsteht; vielmehr dürfte das Wachstum von einem anhaltenden Schwelbrand erodiert werden." Dennoch werden die Verbraucherinnen und Verbraucher weiterhin konsumieren - allerdings mit Bedacht und unter Aufschub grösserer Anschaffungen, bis sich der Nebel gelichtet hat.

Wolfgang von Hessling ist sich durchaus bewusst, dass die Teuerung ihren Höchststand womöglich noch nicht erreicht hat. Die Leitzinsen werden aber erst zurückgehen, wenn die Teuerung endlich nachlässt. In der Zwischenzeit gilt erstmals seit Jahrzehnten "Cash is not Trash" bzw. "Bargeld lacht (wieder)". Zudem sind Anleihen nach dem letzten Markteinbruch "wieder geeignete Anlageinstrumente", vor allem am weniger volatilen kürzeren Ende der Renditekurve.

Möglicherweise ist es bereits zu spät, um sich auf die Stagflation vorzubereiten. Wer aber geduldig genug ist, "an der Seitenlinie zu bleiben und das eigene Pulver (d. h. die Barmittel) zu halten", wird auch diese Phase überstehen, unterstreicht Wolfgang von Hessling.

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