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Market View & Insights
Ruth E. Carter ist die erste afroamerikanische Kostümdesignerin, die mit einem Oscar ausgezeichnet wurde. Über ihre erste Nähmaschine, Black Panther, Afrofuturismus und Superheldinnen.
Ruth E. Carters Robe schimmert im Scheinwerferlicht der Oscar-Akademie um die Wette mit der goldenen Statuette, die sie stolz umgreift. Das Kleid ist schulterfrei - in Carters Kostümen ein Zeichen für weibliche Stärke und Verletzlichkeit. Ihre weissen Ohrringe erinnern an die Krone von Königin Ramonda, Herrscherin über Wakanda. Und wie immer trägt sie ihr Markenzeichen: eine breite, dunkle Brille.
Wie auf jeden wichtigen Moment in ihrem Leben hat sich die Kostümbildnerin auch auf diesen bestmöglich vorbereitet. Sie liest ihre Dankesrede von einer Karte in exakt dem Farbton ihres Kleides. "Ich danke der Akademie dafür, dass sie die Superheldin anerkennt, die in jeder Schwarzen Frau steckt: Sie hält durch. Sie liebt. Sie übersteht." Den Oscar widmet sie ihrer kürzlich verstorbenen Mutter. Die sei auch eine Schwarze Superheldin gewesen. "Vergangene Woche wurde Mabel Carter zu einer Ahnin. Sie wurde 101 Jahre alt." Das Publikum feiert sie mit stehenden Ovationen.
Das war nicht immer so. Sie habe sich in Hollywood lange Zeit als Underdog gefühlt, erzählt Ruth E. Carter vier Monate später in einem Gespräch. Der Anlass: ein weiterer Meilenstein in ihrer Karriere, ihr Buch "The Art of Ruth E Carter, Costuming Black History and the Afrofuture", zu Deutsch: "Die Kunst von Ruth E. Carter, Kostüme für Schwarze Geschichte und Afrofuture". Carter ist ins Academy Museum of Motion Pictures gekommen, um ihr Werk vorzustellen.
Illustriert mit zahlreichen Fotos und Zeichnungen beschreibt Carter darin ihr Leben, von ihrer Kindheit bis zu Black Panther. Sie beschreibt, wie sie Inspiration fand in ihrer Mutter, den Geschwistern, Schwarzen Künstlerinnen und Künstlern - dank ihrem Arbeitsethos, dank ihren Lebensgeschichten. Sie erzählt von Leinwandikonen, von denen sie lernte, ihr Bestes zu geben - darunter Denzel Washington, Angela Bassett, Chadwick Boseman und Lupita Nyong’o.
Ruth E. Carters erste Tage im Filmgeschäft im New York der achtziger Jahre sind einem legendären Regisseur zu verdanken: Spike Lee. Nach 14 gemeinsam gedrehten Filmen seien sie inzwischen wie Bruder und Schwester, sagt Carter im Interview. Anfangs hätten sie sich bewusst als Aussenseiter positioniert. "Spike mochte Hollywood nicht." Er habe eine klare Vision für seine Produktionsfirma 40 Acres and a Mule Filmworks gehabt. Der Name war Programm: Er bezieht sich auf das Versprechen der US-Regierung, nach Ende des Bürgerkriegs ehemaligen Sklaven jeweils 40 Acker Land und ein Maultier als Widergutmachung zu schenken. Ein gebrochenes Versprechen. Bis heute gibt es keine Entschädigung der US-Regierung für Nachfahren der versklavten Männer, Frauen und Kinder.
"Spike sagte mir einmal, dass wir hart arbeiten mussten, um Geschichten zu erzählen, die wir nicht auf der Leinwand sahen." Sie fügt hinzu: "Da war niemand, der aussah wie wir. Was wir in unseren Vierteln beobachteten, wurde im Kino nicht wirklich wiedergegeben." Lee wollte Stimmen, Kulturen und Ausdrucksformen der Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner auf die Leinwand bringen. Carter, die bis dahin vor allem in Theatern gearbeitet hatte, hörte ihm zu und wusste: Sie war am Ort ihrer Bestimmung angekommen.
Ihr erstes Kostüm war ein T-Shirt mit einem Nelson Mandela-Aufdruck für Laurence Fishburne in School Daze. Das Team am Set war divers, vor und hinter der Kamera. Carter fühlte sich gefördert und gefordert. "Wir gingen unsere Arbeit total anders an als in der Hollywood-Maschinerie. Bis zu meiner Oscar-Nominierung für "Malcolm X" wurden Afroamerikanerinnen und -amerikaner nicht erwähnt – und wenn doch, dann in den Schauspiel-Kategorien, nicht in denen fürs Handwerk. Wir haben dafür bewusst einen Raum geschaffen."
Es war ein weiter Weg dorthin; begonnen hat er in Springfield im US-Bundesstaat Massachusetts mit sieben Geschwistern und einer alleinerziehenden Mutter. Mabel Carter fand trotz ausgezeichnetem Schulabschluss nur Arbeit als Haushaltshilfe. Sie ermutigte ihre Tochter, ihren Träumen zu folgen. Die hatten lange nichts mit Kostümen zu tun. Doch mit neun Jahren fand Ruth in einem Möbelstück, das sie für einen Tisch gehalten hatte, eine Singernähmaschine. "Meine Mutter hatte kein Geld, mir Stoffe zu kaufen, also habe ich alte Kleider vom Dachboden benutzt. Das hat Spass gemacht, es hat mich inspiriert," erinnert sie sich. Ihr erstes selbstgemachtes Kleidungsstück, eine Jeansjacke, wollte sie jedoch nicht tragen. Sie schenkte es einem Nachbarsjungen. "Die Jacke passte ihm perfekt. Er war so stolz darauf."
Mehr und mehr fühlte sich Ruth E. Carter von Kunstwerken angezogen, die sich mit der afroamerikanischen Geschichte und Gegenwart befassen. Sie schrieb sich für ein Sonderpädagogik-Studium an einer traditionellen Hochschule für Schwarze ein, der Hampton University im Bundesstaat Virginia. Weil sie an Theatern mit Gehörlosen arbeiten wollte, spielte in Bühnenproduktionen der Universität mit. Als ihr Professor die Rolle, für die sich Carter beworben hatte, einer anderen Studentin gab, fragte sie enttäuscht nach dem Grund. Heute lacht sie, wenn sie sich daran erinnert, wie er ihrer Frage auswich. "Er sagte: weisst du, wir haben ja auch noch Kostüme. Möchtest du vielleicht die Kostüme machen?" Widerwillig sagte sie zu - eine Entscheidung, die ihr Leben veränderte. "Ich habe den Schlüssel zum Kleiderfundus umgedreht. Und dort meine Werkstatt gefunden, meinen Himmel. Von da an habe ich für jede Aufführung die Kostüme gemacht."
Bei einem Sommerjob im "Living History Program" der Colonial Williamsburg Foundation entwickelte Carter wenig später Markenzeichen, die ihre Karriere prägen sollten: umfangreiche Recherche, Liebe zum Detail und historisch korrekte Kostüme. Ihre Aufgabe im grössten Museum für US-Kolonialgeschichte war es, für Besucherinnen und Besucher zwei historische Frauen zu verkörpern – die versklavte Jenny und die Näherin Betty Wallace, die sich ihre Freiheit gekauft hatte. Carter recherchierte die Geschichte der Frauen in Bibliotheks- und Gerichtsarchiven. Dann entwickelte sie die Kostüme des Museums weiter. Als Sklavin war sie barfuss und sammelte Bohnen in einer geknoteten Schürze. Als Betty trug sie Schuhe, ein sorgfältig genähtes Kleid, rauchte Pfeife und erzählte, wann immer sich die Gelegenheit bot, von ihrem Leben: "Mein Mann ist noch versklavt, meine Kinder wurden verkauft und arbeiten in einer anderen Plantage. Ich spare, um sie alle frei zu kaufen." Carter erinnert sich heute: "Es war mir sehr wichtig, ihre Geschichten zu erzählen. Auch wenn es vielleicht nicht genau das war, was die Stiftung wollte."
Bis heute entwirft sie erst dann Kostüme, wenn sie sich durch Recherche und Gespräche ein authentisches Bild der Charaktere gemacht hat. Für Spike Lees "Malcolm X" mit Denzel Washington in der Hauptrolle las sie Briefe, die der Aktivist während seiner Haft in der Norfolk Prison Colony schrieb. "Es waren vor allem Briefe an den Aufseher, in denen er darum bat, in ein anderes Gefängnis verlegt zu werden - und Zugang zu besseren Bibliotheken zu bekommen," erzählt sie. Die Briefe und andere Unterlagen wie die Krankenakte und Gefängnisfotos halfen ihr, die Stimme des Bürgerrechtlers zu hören. "So traute ich mir Entscheidungen darüber zu, welche Kleidung Malcolm X trug in Situationen, von denen wir keine Fotos hatten." Beim Abendessen mit seinen sechs Töchtern zum Beispiel, oder im Schlafzimmer mit seiner Frau.
Der Film brachte Ruth E. Carter 1992 die erste Oscar-Nominierung. Die Academy of Motion Picture Arts and Sciences nahm sie als Mitglied auf. Hollywood wurde auf die afroamerikanische Kostümbildnerin aufmerksam. Steven Spielberg lud sie während der Dreharbeiten für "Jurassic Park" zum Gespräch ins Studio. Es ging um sein nächstes Projekt: "Amistad", die auf wahren Ereignissen beruhende Geschichte der Revolte auf einem Sklavenschiff im Jahr 1839. Wie immer hatte Carter sich auf das Gespräch gut vorbereitet und brachte Vorschläge für Kostüme der westafrikanischen Rebellen mit. "Ich wollte ihre Essenz zeigen, denn sie waren keine Sklaven. Sie waren Afrikaner. Ich informierte mich über ihre Kultur und lernte, dass viele von ihnen Muslime gewesen sein müssen und ihr Haar bedeckt hatten." Carter bekam den Job und für den Film 1997 ihre zweite Oscar-Nominierung.
15 Jahre später sprach Carter für Regisseurin Ava DuVernays "Selma" erneut mit Ikonen der US-Bürgerrechtsbewegung: Martin Luther King. Sie orientierte sich beim Entwerfen der Kostüme ausserdem an zeitgenössischen Fotos im Ebony-Magazin, einer Zeitschrift, die sich seit 1945 an Schwarze Leserinnen und Leser richtet. „Für die Szene des Protestmarschs von Selma nach Montgomery musste alles 100 Prozent akkurat sein.“ Sie erinnert sich auch an die drückende Hitze bei den Dreharbeiten in Alabama: "Ich stand schwitzend vor den Marschierenden mit einer Ebony-Reportage über den Marsch in der Hand und gab Anweisungen: Du musst nach vorne kommen. Du bleibst, wo du bist. Du musst einen Hut aufsetzen - das ist auf dem Foto so." Die Verantwortung bei einem historischen Film sei enorm, und in den vergangenen Jahren noch gewachsen. "Filme haben eine tiefe Wirkung auf die Menschen. In Zeiten wie unseren, in denen afroamerikanische Geschichte in einigen Schulen aus dem Unterricht gestrichen wird, ist es sogar noch wichtiger, diese Geschichte authentisch zu erzählen."
Bei mehr als 40 Filmen hat Ruth E. Carter inzwischen mitgewirkt. Weltweit berühmt wurde sie durch ihre Arbeit an "Black Panther" und "Black Panther - Wakanda Forever". Wer glaubt, sie entwerfe ausschliesslich Kostüme für Schwarze Dramen und Superhelden-Filme, täuscht sich jedoch. Da sind zum Beispiel die Komödien mit Eddie Murphy, wie "Dr. Doolittle", "Daddy Day Care", "Dolemite is My Name" und "Coming 2 America", die Action-Komödie "Die Jones - Spione von nebenan" und Kostüme für die erste Staffel der Western-Serie "Yellowstone".
Bei der Arbeit an Black Panther und den Kostümen für das Wakanda-Reich im Marvel-Universum schloss sich für sie ein Kreis, sagt Carter. "Von meinen frühen Tagen in Colonial Williamsburg an hatte mich alles darauf vorbereitet, unsere Vergangenheit und auch unseren Weg in die Zukunft zu verstehen. Black Panther fühlt sich an wie die Summe aller meiner Erfahrungen." Der Erfolg der Filme ist ohne Carters moderne Interpretationen traditioneller Gewänder nicht vorstellbar. Sie haben die Kostümdesignerin fest im Orbit des Afrofuturismus verankert.
Der Begriff "Afrofuturismus" wurde 1994 von Kulturkritiker Mark Dery in seinem Essay "Black to the Future" eingeführt. Dery setzt sich darin mit afroamerikanischer Kultur, Kolonialismus, Technologie und Science Fiction-Literatur auseinander und fragt: "Stellen Sie sich eine Gemeinschaft vor, deren Vergangenheit vorsätzlich ausradiert wurde, und die ihre Energien folglich darauf verwendet, nach entzifferbaren Spuren ihrer Geschichte zu suchen. Kann sich eine solche Gemeinschaft eine mögliche Zukunft ausmalen?" Afrofuturismus tut genau das. Er entwirft Zukunftsvisionen, die Kräfte, Rituale und Wissen afrikanischer Vorfahren mit modernster Technologie verbinden. Er verschmilzt Erfahrungen der afrikanischen Diaspora mit Utopien afrikanischer Staaten, die von Kolonialismus und den anschliessenden Traumata verschont geblieben sind. Er stellt die bisherige Geschichtsschreibung, aber auch die von weissen Autorinnen und Autoren geprägte Science Fiction-Literatur in Frage.
Obwohl sich Ruth E. Carter mit Fragen wie diesen ihr Leben lang auseinandergesetzt hatte, war "Black Panther" eine grosse Herausforderung. Da war zum einen die Maschinerie rund ums Marvel-Universum. "Marvel ist wie die CIA - supergross, super einschüchternd und alles ist top-secret!" beschreibt sie ihren ersten Eindruck.
Vor dem ersten Treffen mit Regisseur Ryan Coogler und den Produzenten war sie nervös. Sie brauchte einen "Black Panther"-Crashkurs. Anders als ihre Brüder hatte sie sich nie besonders für Superheldinnen und -helden interessiert. Als sie Coogler endlich nervös und angespannt gegenübersass, und ihm auf dem Laptop ihre ersten Kostümentwürfe zeigen wollte, konnte sie plötzlich ihren Ordner nicht mehr öffnen. Die Technik streikte. Coogler bemerkte ihre Verzweiflung und löste die Spannung, indem er erzählte, wie er als Junge mit seinem Vater zusammen "Malcolm X" gesehen hatte: "Die Leute brachten ihre Kinder mit ins Kino. Sie hatten so lange darauf gewartet, diese Geschichte auf der Leinwand zu sehen. Ich sass auf dem Schoss meines Vaters und erinnere mich bis heute an die Kostüme." Ruth E. Carter fühlte sofort eine Art Seelenverwandtschaft mit Ryan Coogler. Sie sah in ihm einen jungen Spike Lee. Es habe sich angefühlt wie Vorsehung. Über die nächsten Monate kreierten sie gemeinsam Architektur, Gesellschaft, Kultur und Werte von Wakanda. "Es kam mir vor, als hätte ich mich bei ihm für diesen Film beworben, als er ein kleiner Junge war. Manche Dinge sollen einfach passieren."
Carter schuf mehr als die Kleidung für Wakanda: Sie gab Afroamerikanerinnen und Afroamerikanern eine neue Vision von sich, ihrer Gemeinschaft, und ihrer Zukunft. Dankbarkeit zieht sich wie ein roter Faden durch die verschiedensten Bemerkungen ihrer Fans, die zur Buchvorstellung ins Academy Museum of Motion Pictures in Los Angeles gekommen sind. Im Foyer des Kinos stehen sie über eine Stunde Schlange für eine Unterschrift in Carters Buch. Viele tragen Kleidung, die von Black Panther-Kostümen inspiriert ist: fliessende Gewänder im Stil von Königin Ramonda; perlenbestickte Gürtel in Anlehnung an die Bodyguards; leuchtende Farben und Muster wie die Mitglieder der Stämme von Wakanda. Ruth Carter lacht mit ihnen, hört zu und nimmt sich Zeit für Gespräche.
Zwei Stunden später, im ausverkauften Kinosaal, empfängt das Publikum die zweifache Oscargewinnerin mit minutenlangem stehendem Applaus. Sie revanchiert sich mit zahllosen Anekdoten aus dem Leben hinter den Kulissen. Da ist zum Beispiel Eddy Murphy, der es hasst, wenn seine Körpermasse genommen werden. Ganz anders Samuel L. Jackson. Er könnte Stunden in der Anprobe mit Kostümen experimentieren. Sie erzählt auch, wie aufwändige Kostüme entstehen. Zum Beispiel die Krone für Angela Bassetts Königin Ramonda. "Wir haben sie mit 3D-Technik gedruckt. So konnten wir Technologie und Tradition verbinden, um zu zeigen, dass Wakanda eine vorwärtsdenkende Nation ist."
Mehr als hundert Decken aus Südafrika mussten von Hand ausgedünnt werden, damit sich die Schauspielerinnen und Schauspieler in ihren Actionszenen besser bewegen konnten. Für die Black Panther Fortsetzung studierte sie die Kultur der Maya. Unterwasseraufnahmen brachten neue Anforderungen an die Materialien. Mehr als tausend Menschen hätten zu den Kostümen der Marvel-Filme beigetragen, erzählt Carter, darunter Bildhauerinnen, Holzschnitzer, Goldschmiedinnen und Weber.
Noch lange beantwortet sie Fragen aus dem Publikum. Nein, es werde keine Ruth Carter-Kollektion in Kleidungsgeschäften geben. Zu gross seien schon die Fast Fashion-Abfallberge. Nein, sie arbeite derzeit an keinem Film, weil sie die Streikenden in Hollywood unterstützt. Ja, natürlich müsste die Filmindustrie viel diverser sein und Filmemacherinnen besser bezahlt.
Es sei die Ehre ihres Lebens, dass sie mit Chadwick Boseman einen Schwarzen Superhelden in einen afrikanischen König verwandeln konnte, sagt sie abschliessend. Und wiederholt, was sie in ihrer ersten Oscar-Rede sagte: "Meine Karriere beruht auf der Leidenschaft, Geschichten zu erzählen, dank denen wir uns selbst besser verstehen."