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Market View & Insights
Von Inflationssorgen zu Rezessionsängsten.
Bereits im Dezember 2021 haben wir die Ursachen des deutlichen Inflationsschubs sowie über dessen Auswirkungen auf die Aktienmärkte aus aktuellem Anlass analysiert. Nachfolgend beleuchten wir, wie sich die Situation im Laufe des Jahres 2022 weiterentwickelt hat, und welches Szenario kurz- und mittelfristig zum Tragen kommen könnte. Hierbei fallen drei Entwicklungen im ersten Halbjahr 2022 massiv ins Gewicht.
Der Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine am 24. Februar 2022 hat wesentlich zu einem zusätzlichen, angebotsseitigen Inflationsschock beigetragen. Russland ist ein wichtiger Lieferant für Rohstoffe aller Art, so z.B. von Energieträgern wie Erdöl, Erdgas oder Kohle, von Metallen wie Palladium, Platin, Nickel, Stahl, Aluminium und Kupfer, aber auch von Nahrungsmitteln wie Getreide (z.B. Weizen) wie auch den für die Nahrungsmittelproduktion unentbehrlichen Düngemitteln.
Russland ist infolge der kriegerischen Aktivitäten sehr schnell zum weltweit am stärksten sanktionierten Land aufgestiegen, und hat diesbezüglich Länder wie den Iran weit hinter sich gelassen. Das verschärfte die Angebotsknappheit und die bis dato schon ohnehin deutlichen Unterbrüche in den Lieferketten, was sich wiederum in einem verstärkten Angebots- und Inflationsschock bei ausgewählten Rohstoffen manifestierte.
Die Europäische Union als einer von Russlands grösster Handelspartner war hierbei überdurchschnittlich betroffen. Das grösste Risiko für die EU ist aber ein kompletter Lieferstopp von russischem Erdgas. Russland deckte vor dem Krieg rund einen Drittel des Erdgasbedarfs Europas, was zwischenzeitlich deutlich weniger wurde. Dies erschwert einen gewünschten Aufbau der Erdgaslager vor dem kommenden Winter und führt zu signifikant höheren Erdgas- wie auch Energiekosten auf dem europäischen Kontinent verglichen mit den USA. Schlussendlich führt dies für Europa zu Wettbewerbsnachteilen und hält den Inflationsdruck entsprechend hoch.
Mit dem Aufkeimen der Omikron-Variante verzeichnete China den stärksten Corona-Ausbruch seit dem Frühjahr 2020. Ab Mitte März waren zeitweise rund 375 Millionen Menschen in 45 Städten in erneuten "Lockdowns". Betroffen waren unter anderem weite Teilen des Jangtse-Flussdeltas, welches mit seinen bedeutenden Städten, Technologie- und Produktionsstandorten wie Shanghai, Zhejiang und Jiangsu zwar lediglich einen Bevölkerungsanteil von 11.4% aufweist, aber für rund 21% der industriellen Produktion und 36% der chinesischen Exporte verantwortlich ist.
In Shanghais Hafenanlagen - dem grössten Warenumschlagplatz der Welt - bildeten sich phasenweise lange Warteschlagen von bis zu 500 Containerschiffen, die nicht andocken, entladen oder neu beladen werden konnten.
Am Höhepunkt des Verkehrschaos steckte rund ein Fünftel der globalen Containerflotte unproduktiv an verschiedenen Küsten fest. Auf dem Landweg führt Chinas neue, mehr als 6 000 Kilometer lange Seidenstrasse über die Ukraine nach Moskau und weiter nach Europa. Infolge des Krieges in der Ukraine konnten Container über diese Route nicht planmässig transportiert werden, was die Transportlast zusätzlich auf die Schiffe verlagerte und zu Unterbrechungen der Lieferketten beitrug. Schlussendlich waren die täglichen Inlandflüge in China von über 14 000 zu Beginn des Jahres auf unter 3’500 gefallen, ähnlich wie zu Beginn der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020.
Eine Abschwächung der weltweit zweitgrössten Volkswirtschaft hatte entsprechende Auswirkungen auf die globale Wirtschaftsdynamik. Zwar hat sich die Lage zwischenzeitlich verbessert, aber Experten gehen davon aus, dass China wahrscheinlich zumindest bis zum 20. Parteitag der Kommunistischen Partei im Herbst an der "Null-Covid" Strategie festhalten dürfte, was das Risiko erneuter respektive fortgesetzter Unterbrechungen birgt. Im chinesischen Heimmarkt beschleunigten die jüngsten Lockdowns eine graduelle Abwanderung wichtiger Zulieferbranchen.
Der Inflationsdruck blieb entsprechend hauptsächlich infolge der Probleme auf der Angebotsseite höher und länger als ursprünglich angenommen. Die letzten Inflationszahlen für den Monat Juni erreichten in den USA einen Wert von 9.1% gegenüber Vorjahr, in Europa 8.6% - beides Höchstwerte seit rund 40 Jahren - und sogar in der Schweiz beachtliche 3.4% - den höchsten Wert in 14 Jahren (siehe Grafik 1).
Der starke Schweizerfranken hilft, den Inflationsdruck auf importierten Waren - unter anderem Öl und Erdgas - etwas in Schach zu halten. Als Reaktion auf den anhaltend hohen Inflationsdruck hat die U.S. Fed bereits im ersten Halbjahr mit einem Anziehen der geldpolitischen Schrauben begonnen. Mehrmals wurden die Leitzinsen angehoben, einmal sogar um 75 Basispunkte. Einen so starken Zinsschritt gab es letztmals 1994, also vor rund 28 Jahren.
Selbst die Schweizerische Nationalbank (SNB) hat eine Zinserhöhung um 50 Basispunkte gewagt, und damit schneller als die Europäischen Zentralbank (EZB) reagiert. Dies hat zu einer klaren Stärke des US-Dollars wie auch des Schweizer Frankens gegenüber dem Euro beigetragen. Es wird aber erwartet, dass die EZB ebenfalls mit Zinserhöhungen folgt. Damit ist der Fokus der Notenbanken klar von der Stimulierung der Wirtschaft zur Bekämpfung der Inflation gewechselt. Die Verschärfung der Liquiditätsbedingungen macht den Marktteilnehmern zusätzlich zu schaffen.
Die massiven Handelssanktionen und Embargos gegenüber Russland haben dazu geführt, dass sich viele westlichen Unternehmen aus dem russischen Markt verabschiedet haben. Drei Jahrzehnte von Auslandinvestitionen sind nahezu über Nacht kollabiert, und diverse westliche Unternehmen mussten grosse Abschreibungen auf ihren Beteiligungen und Vermögenswerte hinnehmen. Der Schaden daraus ist nahezu irreparabel und wirft Russland wirtschaftlich massiv zurück.
China sucht einen Weg der Lockerung im Umgang mit der Null-Toleranz mit Covid-19, was sich aber schwierig gestaltet. Die chinesische Regierung hat sich mit seiner Politik gegenüber seiner Bevölkerung als dem Westen deutlich überlegen positioniert. Die parteipolitische Führung hat seinem Volk den kapitalistischen Westen als gnadenlos vorgeführt, würden doch Millionen von Menschenleben riskiert oder gar geopfert, um den Konsum und Kapitalismus zu erhalten.
Ein eleganter Ausweg aus der aktuellen Corona-Strategie ohne Gesichtsverlust fällt daher schwer. Den Schwierigkeiten im Heimmarkt wirkt die chinesische Regierung mit einer Lockerung der Geldpolitik und zunehmenden Stimulierungsmassnahmen entgegen. Das macht China zu einer der wenigen Volkswirtschaften, welche von einem bereits tiefen Niveau aus eine Wachstumserholung unterstützt von geld- und fiskalpolitischem Rückenwind geniesst, während der Rest der Welt an sich genau in die umgekehrte Richtung geht - nämlich in Richtung einer Verlangsamung der wirtschaftlichen Dynamik begleitet von geringerer Liquidität, um die Inflation in den Griff zu bekommen.
Anhaltender regulatorischer Druck, ein überbewerteter Immobilienmarkt und die problematische Null-Toleranz-Politik bergen allerdings überdurchschnittliche Risiken. Betreffend die globalen Lieferengpässe - vereinzelte Rohstoffe wie Erdgas oder Nahrungsmittel klar ausgeschlossen - kann eine moderate Entwarnung gegeben werden. Die Situation beginnt sich zu entspannen.
Der Stau der Containerschiffe ist rückläufig, die Verfügbarkeit an Lastwagenfahrern hat sich verbessert, die Frachtraten fallen und die Lieferzeiten verkürzen sich. Die Ursache dafür ist sind aber nicht nur Fortschritte in der Logistik, sondern überwiegend eine abnehmende Nachfrage.
In vielen Bereichen der Wirtschaft wurde infolge der Lieferschwierigkeiten zu viel auf Lager bestellt, die Nachfrage wurde überschätzt, und das Inventar wächst, was wiederum zu Stornierungen pendenter Bestellungen führt. Man nennt dieses Phänomen "demand destruction" - Nachfragevernichtung. Bei einem knappen Angebot vermindert eine nachlassende Nachfrage den Aufwärtsdruck auf die Preise, d.h. infolge einer geringeren Nachfrage verringert sich das Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage, was den Inflationsdruck über die Zeit entschärfen dürfte.
Insgesamt haben aber die schwierigen Bedingungen den Aktienmärkten eines der schlechtesten ersten Halbjahre in Jahrzehnten beschert. Der U.S. Aktienmarkt hatte beispielsweise die schlechteste Performance im ersten Halbjahr seit 1962 - also in 60 Jahren.
Das Lohnwachstum vermag mit der anhaltend hohen Inflation - vor allem auch in lebensnotwendigen Bereichen wie bei Nahrungsmitteln, Energie oder Refinanzierungskosten von Hypotheken - bislang nicht mitzuhalten, weshalb die Konsumenten eine reale Kaufkrafteinbusse erfahren. Das heisst, sie können sich nicht mehr soviel leisten, wie früher.
Bei Konsumentenumfragen in den USA geben nahezu 50% der Befragten an, dass sie ihr Ausgabenverhalten vor allem im weniger lebensnotwendigen Nicht-Basiskonsum beschneiden müssen. Der Begriff der "Energiearmut" - in Englisch "fuel poverty" - wurde geboren. Er bezeichnet Konsumenten, welche finanziell Mühe haben, nur schon die lebensnotwendigen Bereiche abzudecken. Einige Konsumenten müssen sich entscheiden, ob sie ihr Budget fürs Tanken, Heizen oder Lebensmittel einsetzen. In einzelnen Ländern wie Deutschland oder Grossbritannien scheinen mehr knapp 20% der Haushalte in diese Kategorie zu fallen. Dies erklärt nun auch das oben geschilderte Phänomen der Nachfragevernichtung.
Die Kombination aus Inflation, Reallohneinbusse und höheren Finanzierungskosten führt zu einer geringeren Nachfrage nach Konsumgütern und Dienstleistungen. Jene, die munter weiter konsumieren, tun dies teilweise indem sie sich stärker verschulden, sei es über Kreditkartenschulden oder Privatkredite. Die Grafik 2 zeigt eindrücklich, dass die Sparquote der U.S. Konsumenten - wenn auch von einem enorm hohen Sparpuffer, den sie dank grosszügiger Unterstützungsleistungen während der Corona-Pandemie bilden konnten - nun auf den tiefsten Stand seit 2009 gefallen ist. Ein solches Konsumverhalten zeigt einerseits, dass die Konsumenten kurzfristig den Inflationsschock zu einem gewissen Grad über ihre Ersparnisse abfangen können, andererseits aber ein Konsum durch den Verzehr der Ersparnisse oder höhere Konsumkredite längerfristig nur bedingt aufrechtzuerhalten ist.
Der Höhepunkt der U.S. Inflation wurde schon länger vorhergesagt, und immer wieder nach hinten verschoben. Es mehren sich nun aber die Anzeichen, dass der Inflationsdruck in den USA im dritten Quartal nachlassen dürfte. Die abnehmende Nachfrage - möglicherweise auch eine milde Rezession - bei gleichzeitig besser geölten Lieferketten sollten hierzu beitragen. In Europa gestaltet sich die Situation schwieriger.
Über Europa hängt eine latente Energiekrise. Der Europäische Markt ist überdurchschnittlich von Gaslieferungen aus Russland abhängig, allen voran Deutschland, Italien und Österreich. Da Deutschland russisches Erdgas weiterexportiert, wird dies zu einem europaweiten Thema. Bereits im Juni begann Russland die Erdgaslieferungen über die wichtigste Pipeline Nord Stream 1 zu drosseln, und lieferte schlussendlich nur noch knapp einen Drittel der vertraglich vereinbarten Menge.
Am 11. Juli wurde Nordstream 1 für zehn Tage abgeschaltet, um jährliche Revisionsarbeiten vorzunehmen. Die Sorgen sind gross, dass Russland nach der Revision den Gashahn verschlossen lassen könnte. Unser Szenario ist, dass Russland möglicherweise zuerst eine Wiederaufnahme der Gaslieferungen etwas verzögert, ein paar Tage oder eine Woche auf Zeit spielt, um die Nervosität in Europa hochzuhalten. Danach dürfte Russland bis zu schätzungsweise 40% der vereinbarten Liefermenge aber freigeben. Würde Nord Stream 1 über eine längere Periode gar nicht genutzt, entstehen umfassende und schwer zu reparierende Schäden.
Bei einer Lieferung von bis zu 40% erzielt Russland zwei wichtige Ziele: Erstens einen anhaltend hohen Erdgaspreis und zweitens kann Europa sein Lagerbestände vor dem Winter nicht auf die gewünschten 80% aufstocken (aktuell ca. 50%), was die Verhandlungsmacht Russlands vorausschauend stärkt. Das Inflationsszenario für Europa ist daher schwieriger abzuschätzen.
Wir gehen von einem Höhepunkt des Inflationsdrucks spätestens im Q4 2022 respektive Q1 2023 aus. Ein wesentlicher Grund ist die beschriebene nachlassende globale Nachfrage, was sich auch in einem ersten, moderaten Rückgang der Rohstoffpreise zeigt (Grafik 3).
Die laufende Abkühlung der wirtschaftlichen Dynamik deutet auch auf ein erhöhtes Rezessionsrisiko hin. In beiden Schlüsselregionen - den USA wie Europa - dürfte die Inflation aber auch nach dem überschreiten des Zenits vorerst auf sichtlich höheren Niveaus verharren, als beispielsweise vor Corona. Die Korrektur an den Aktienmärkten im bisherigen Jahresverlauf preist das schwierige Umfeld mit nachlassendem Wirtschaftswachstum, erhöhten Rezessionsrisiken sowie anhaltendem Inflationsdruck und einer geringeren Liquiditätsversorgung der Märkte durch die Zentralbanken bereits zu einem gewissen Grad ein.
Was noch fehlt, sind die Revisionen der Gewinnerwartungen nach unten. Unseres Erachtens halten sich die Gewinnerwartungen angesichts der deutlich gestiegenen Herstellungskosten auf einem zu hohen Niveau. Eine schwächere Wirtschaftsdynamik, bescheidenere Gewinnerwartungen - auch ein Zeichen nachlassender Nachfrage - und damit nachlassender Inflationsdruck würden den Zentralbanken die Möglichkeit geben, von einem strengen geldpolitischen Kurs abzurücken, und damit den Aktienmärkten wieder mehr Raum zum Atmen zu geben. Bis dahin ist mit einer anhaltend erhöhten Volatilität an den Aktienmärkten zu rechnen.
Aufgrund des höheren Selbstversorgungsgrades mit Energie, den entsprechenden Wettbewerbsvorteilen hinsichtlich einer günstigeren Produktion und der besseren Visibilität betreffend die Inflationsentwicklung ziehen wir den U.S. amerikanische Aktienmarkt dem europäischen vor. In Europa zahlen die Unternehmen mehr als das Vierfache für Erdgas und der Strompreis hat sich gegenüber der Zeit vor der Corona-Pandemie vervielfacht.
Wir verfolgen zwar ein Szenario, in dem Europa mit einer Mindestversorgung mit Erdgas aus Russland rechnen kann, aber das Risiko einer Eskalation in der Energieversorgung hängt vorerst wie ein Damoklesschwert über dem europäischen Aktienmarkt. Die Vorteile Europas infolge eines schwachen Euros - was den Export stützt, aber Rohstoffimporte weiter verteuert - günstigere Bewertungen, solide Bilanzen und der Tatsache, dass globale Investoren bereits deutlich untergewichtet investiert scheinen, vermögen die kurzfristigen Risiken nicht vollumfänglich aufzuwiegen. Wir ziehen somit den U.S. Aktienmarkt ("attraktiv") dem europäischen ("unattraktiv") vor.
Die LGT Experten analysieren laufend die globale Markt- und Wirtschaftsentwicklung. Mit unseren Research-Publikationen zu den internationalen Finanzmärkten, Branchen und Unternehmen treffen Sie fundierte Anlageentscheide.