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Finanzmärkte

Neutrale Zinsen - was ist das?

Strukturelle Veränderungen in den Volkswirtschaften der USA und der Eurozone deuten darauf hin, dass sich die sogenannten neutralen Zinsen auf einem höheren Niveau stabilisieren könnten als in der Vergangenheit.

Datum
Autor
Maggie Elliott, Gastautorin
Lesezeit
4 Minuten

Älterer Herr im Anzug, mit Aktenordnern in der Hand betritt einen Raum mit Stühlen und Mikrophonen, hinten Produktionsraum
Der neutrale Leitzins ermöglicht es einer Volkswirtschaft, bei Vollbeschäftigung und stabiler Inflation im Rahmen der Ziele der Zentralbank zu operieren. © Aaron Schwartz/Polaris/laif

Da der Zinssenkungszyklus bereits im Gange ist oder zumindest kurz bevorsteht - wenn auch etwas holprig - beschäftigen sich Anlegerinnen und Anleger zu Recht damit, wie die neue Normalität aussehen wird. Die massgeblichen Leitzinsen der Notenbanken schwanken im Zeitverlauf aus verschiedenen Gründen, am offensichtlichsten als Reaktion auf die jeweiligen Phasen der Konjunkturzyklen. Notenbanken bewerten diese zyklischen Entwicklungen jedoch auch stets mit Blick auf das langfristige Gleichgewicht. Wo aber liegt das natürliche, oder fachsprachlich, das neutrale Zinsniveau einer Volkswirtschaft, das Wachstum weder hemmt noch fördert?

Tina Jessop, Senior Economist bei der LGT Private Bank Europe, erklärt: "Der neutrale Leitzins ermöglicht einer Volkswirtschaft, bei Vollbeschäftigung und stabiler Inflation im Rahmen der Zielvorgaben der Zentralbank zu operieren." Aktuell geht die LGT von einem realen, d.h. inflationsbereinigten neutralen Zinssatz für die USA in der Grössenordnung zwischen 0.5 % und 1 % aus, für die Eurozone liegt die Erwartung nahe bei 0 %. 

Warum die Leitzinsen über Null bleiben

Dieser neutrale Zinssatz spielt in den Überlegungen der Notenbanken eine wesentliche Rolle. Er bestimmt, wie weit sie ihre Leitzinsen senken können, was wiederum Wechselkurse, Renditen von Staatsanleihen und Bewertungen an den Aktienmärkten beeinflusst. "Sofern kein unerwartetes Kreditereignis und kein externer Schock eintritt, dürften die Nominalzinsen der Notenbanken nach Meinung der LGT deutlich über den Nullzinsen liegen, an die sich Anlegerinnen und Anleger in der Zeit zwischen der globalen Finanzkrise im Jahr 2008 und der Pandemie im Jahr 2020 gewöhnt hatten", so Jessop.

Zugleich betont sie, dass das Konzept des r*, also der inflationsbereinigten neutralen nominalen Zinssätze, ein abstraktes theoretisches Konstrukt ist, das sich nicht in Echtzeit messen lässt. Die Ökonominnen und Ökonomen der LGT sind der Ansicht, dass die neutralen Zinsen derzeit einen historischen Tiefststand erreicht haben. Gleichzeitig erkennen sie jedoch Anzeichen dafür, dass sich diese Zinssätze in Zukunft auf einem höheren Niveau stabilisieren könnten.

Ein Rückblick

Eine Person mit Helm und Schutzkleidung hantiert in einer Industriehalle mit grossen Rohren.
Trotz erheblicher Leitzinserhöhungen in den letzten beiden Jahren hat sich das Wirtschaftswachstum insbesondere in den USA zuletzt als robust erwiesen. © istock/Lim Weixiang

Erst im Nachhinein können Ökonominnen und Ökonomen mit einer gewissen Sicherheit den angemessenen Zinssatz für einen definierten Zeitpunkt bestimmen. In früheren Schätzungen der Federal Reserve Bank of New York lag r* in den 1990er Jahren in den USA zwischen 2.5 % und 4 % und in der Eurozone zwischen 2 % und 3 %. In den Jahren vor der Pandemie sanken die Schätzungen auf eine Bandbreite von 0 % bis 1 %.

Trotz der substanziellen Leitzinserhöhungen in den letzten zwei Jahren erwies sich das Wirtschaftswachstum vor allem in den USA zuletzt als robust. Dieses scheinbare Paradoxon lässt vermuten, dass r* höher sein könnte als bisher angenommen. Diese Annahme basiert auf der Überlegung, dass der strukturelle Wandel in den Volkswirtschaften der USA und der Eurozone den Abwärtstrend möglicherweise umgekehrt hat.

Welche Kräfte beeinflussen nun die neutralen Zinsen? "Grundsätzlich", erklärt Jessop, "wird r* durch Ersparnisse, Investitionen und durch Produktivitätsgewinne aus der Investitionstätigkeit bestimmt. Alle drei Faktoren durchlaufen derzeit einen grundlegenden Wandel."

Verschärfung durch hohe Haushaltsdefizite und Wettbewerb um private Spargelder

Unter dem Einfluss von Klimasorgen und zunehmenden geopolitischen Spannungen hat sich etwa das Investitionstempo entscheidend verändert. Nach einer Phase der Unterinvestitionen in Infrastruktur und der Entschuldung nach der globalen Finanzkrise investieren Anlegerinnen und Anleger in den Übergang zu grüner Energie, in die Resilienz der Lieferketten sowie in Verteidigung und nationale Sicherheit. 

Zudem dürften technologische Sprünge durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) die Investitionsausgaben der Unternehmen erhöhen und somit das Produktivitätswachstum ankurbeln. Damit würde der negative Produktivitätstrend der letzten zwei Jahrzehnte umgekehrt. Verschiedene Studien erwarten, dass das Produktivitätswachstum bis zum Ende dieses Jahrzehnts um bis zu ein bis zwei Prozentpunkte pro Jahr zunehmen wird. Sowohl die höhere Produktivität als auch die erhöhte Investitionsnachfrage dürften zu einer höheren Grenzrendite des Kapitals und damit auch zu einem höheren r* führen.

Hohe strukturelle Haushaltsdefizite

Eine schrumpfende und zugleich alternde Erwerbsbevölkerung sind weitere Faktoren, die Druck auf die Zinsen ausüben. Nachdem die Babyboomer jahrzehntelang in Pensionsfonds eingezahlt und Ersparnisse aufgebaut haben, wird sich auch dieser Trend umkehren. Diese Situation wird durch hohe strukturelle Haushaltsdefizite und den entstehenden Wettbewerb um private Spargelder zusätzlich verschärft.

Bis der durch KI ausgelöste Produktivitätsschub gegen Ende dieses Jahrzehnts voll zur Geltung kommt, dürften die neutralen Zinsen auf relativ niedrigem Niveau verharren. Dennoch hat die Federal Reserve begonnen, ihre Prognosen für den langfristigen nominalen Gleichgewichtszins schrittweise von 2.5 % auf 2.8 % anzuheben.

Folgen für den Zinssenkungszyklus

Eine Frau in Bluse und Jacke schaut freundlich in die Kamera.
Tina Jessop, LGT Private Banking

"Veränderungen der neutralen Zinssätze zeigen sich erst im Zeitverlauf und sind nicht unmittelbar erkennbar", erklärt Jessop. Aktuelle Schätzungen der Notenbanken sehen r* in den USA in einer Bandbreite von 0.5 % bis 1 % und nahe bei null in der Eurozone. In Kombination mit Inflationszielen von rund 2 % resultieren neutrale geldpolitische Nominalzinsen von 2.5 % bis 3 % für die USA und von knapp unter 2 % für die Eurozone. Jessop geht davon aus, dass der neutrale Zinssatz für die USA am oberen Ende dieser Bandbreite liegen dürfte.

Fest steht, dass das aktuelle Zinsniveau restriktiv wirkt. Die LGT rechnet damit, dass sich die Leitzinsen der wichtigsten Notenbanken im Verlauf des Jahres 2025 diesem neutralen Niveau nähern werden. 

Marktinformationen unserer Research-Expertinnen und Experten

So sehen wir die Märkte

Die LGT Expertinnen und Experten analysieren laufend die globale Markt- und Wirtschaftsentwicklung. Mit unseren Research-Publikationen zu den internationalen Finanzmärkten, Branchen und Unternehmen treffen Sie fundierte Anlageentscheide.

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