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Market View & Insights
Das Wirtschaftswachstum in Spanien und Italien liegt derzeit über dem europäischen Durchschnitt, während Deutschland und Frankreich hinterherhinken. Ist dies der Vorbote eines langfristigen Strukturwandels in der Eurozone?
Das Wachstum in Südeuropa hat in diesem Frühjahr für Schlagzeilen gesorgt, da sich die Länder an der Peripherie der Eurozone schneller von der jüngsten Wachstumsschwäche erholt haben als ihre viel grösseren Nachbarn im Norden. Spanien und Italien, in geringerem Masse auch Portugal und Griechenland, profitierten von einer Erholung des Tourismus und höheren Löhnen, was zu einem Anstieg der Verbraucherausgaben führte. Gleichzeitig hatte die Konjunktur in diesen Ländern weniger unter dem globalen Rückgang der industriellen Produktion und dem massiven Preisanstieg bei Erdgas infolge der russischen Invasion in der Ukraine gelitten.
"Die Wachstumsraten in den Peripheriestaaten haben sich zuletzt positiv entwickelt. Wer sich aber ausschliesslich auf diese Statistik konzentriert, blendet die wichtigen Nuancen der aktuellen europäischen Wirtschaftslage aus", erklärt Wolfgang von Hessling, Chefökonom LGT Private Banking Europe. Um die Entwicklungen richtig einzuordnen, ist es seiner Ansicht nach wichtig, die Haupttreiber der einzelnen Volkswirtschaften im Euroraum zu analysieren.
"Grob gesagt sind 60 Prozent des BIP in Italien und Spanien konsumgetrieben", erklärt er. Dies stehe in starken Kontrast zu Frankreich und Deutschland, wo weniger als 50 Prozent des BIP konsumgetrieben seien. "Lohnsteigerungen führen zu Konsumsteigerungen, und die Löhne sind in letzter Zeit gestiegen", so von Hessling weiter. Zudem handelt es sich beim Konsum um einen lokalen und internen Treiber, der nicht so stark wie andere Wachstumstreiber von äusseren Wirtschaftskräften abhängt.
"Frankreich und Deutschland sind deutlich abhängiger von Exporten, d. h. von einem externen Treiber, der sich nach der Pandemie nur enttäuschend entwickelt hat", sagt er. Die Rückverlagerung von Lieferketten, das rückläufige Wachstum in China und der schwache Welthandel haben allesamt zum schlechten Abschneiden der deutschen Exportindustrie beigetragen.
Um die Bedeutung des Exports für die deutsche Wirtschaft zu veranschaulichen, verweist Wolfgang von Hessling auf den in Euro berechneten Gesamtbetrag aller Exporte seit 2021, ausgedrückt als prozentualer Anteil am BIP. In Deutschland beträgt dieser Anteil 51 Prozent, in Italien dagegen 36 Prozent und in Spanien 41 Prozent.
"Man sollte sich beim Betrachten dieser Zahlen bewusst sein", erläutert Wolfgang von Hessling, "dass die globale Fertigungsindustrie seit Mitte 2022 in einer Rezession steckt. Obwohl zahlreiche Volkswirtschaften, nicht zuletzt in Europa, insgesamt von einer technischen Rezession verschont geblieben sind, zeigt sich die Schwäche in der Fertigungsindustrie natürlich in denjenigen Ländern deutlicher, in denen dieser Wirtschaftszweig prozentual gesehen eine grössere Rolle spielt. "Es stimmt, zahlreichen Industrieländern ist es gelungen, eine Rezession zu umgehen, allerdings nur dank der Tatsache, dass der Dienstleistungssektor einen deutlich grösseren prozentualen Anteil an ihrem BIP hat", folgert er.
In Deutschland wurde die Verlangsamung der Produktion und der Exporte durch den Gaspreisschock und die Inflation verstärkt, und beide Faktoren wirken sich auf Investitionspläne negativ aus. "Tatsächlich leisten die südeuropäischen Länder derzeit einen grossen Beitrag zum realen BIP-Wachstum in Europa; dank ihnen ist die Region nicht in eine Rezession geraten, sondern erzielt ein schwaches, aber eindeutig über Null liegendes Wachstum", wie Wolfgang von Hessling argumentiert. "Man sollte aber nicht vergessen, dass Wachstum im Süden Europas, das aktuell anzieht, auf einem relativ niedrigen Niveau eingesetzt hat und dass ihm viele unterdurchschnittliche Jahre vorausgegangen sind."
Sowohl Italien als auch Spanien hinkten den Wachstumsraten Frankreichs und Deutschlands jahrelang hinterher. Erst vor kurzem erreichte das italienische BIP wieder den Stand, den es vor der grossen Finanzkrise 2007/2008 verzeichnet hatte. Spanien hat seither einen Zuwachs von zehn Prozent erlebt. In Frankreich und Deutschland hingegen, liegt das BIP heute um rund 15 Prozent über dem damaligen Niveau. "Italien und Spanien weisen nun allerdings stärkere BIP-Wachstumsraten aus. Dies liegt an der Beschaffenheit dieser beiden Volkswirtschaften: solider Binnenkonsum, getragen von starken Arbeitsmärkten", erklärt Wolfgang von Hessling. Es ist aber noch zu früh, nun direkt davon auszugehen, dass das Wirtschaftswachstum in Europa massiv anzieht. Weder Italien noch Spanien spielen in der europäischen Wirtschaft eine bedeutende Rolle; beide Länder leiden zudem unter höheren Schuldenquoten im Verhältnis zu ihrem BIP und unter strukturellen Problemen.
Italien trägt seit Jahren eine bedeutende Schuldenlast. Im aktuellen Umfeld ist es jedoch durchaus wahrscheinlich, dass das Land seine Schuldenquote durch die Wachstumserholung senken und seine durchschnittliche zukünftige Wachstumsrate potenziell steigern kann. Spanien trägt einen grösseren Anteil zum europäischen BIP bei, hat eine geringere Schuldenlast und erzielt grössere Erträge aus dem Tourismus. Die höheren Löhne und die ausgeprägtere Konsumfreude in diesen beiden Ländern dürften nach Ansicht von Wolfgang von Hessling im Zeitverlauf einen bedeutenden Beitrag an das Wachstum des europäischen BIP leisten.
Angesichts des Grössenunterschieds zwischen den zentralen und den peripheren europäischen Volkswirtschaften ist das Wachstum in Italien und Spanien zwar willkommen, aber insgesamt weniger gewichtig als die Entwicklungen in Frankreich und Deutschland. Was wird die Zukunft bringen?
Die Leistung Deutschlands und Frankreichs ist entscheidend für die wirtschaftliche Zukunft der Region.
Die Senkungen des Leitzinses durch die europäische Zentralbank sollten sich theoretisch auf alle Volkswirtschaften in der Eurozone positiv auswirken. In der Praxis dürften die grossen Unterschiede zwischen den einzelnen Volkswirtschaften aber leider zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Zum Beispiel sollten sich Leitzinssenkungen hauptsächlich auf die Fertigungsindustrie auswirken, da niedrigere Zinsen Kapitalaufwendungen fördern - Leitzinssenkungen wirken also theoretisch als Wachstumstreiber. In Italien und Spanien dürfte sich das Wachstum allerdings eher normalisieren als beschleunigen, da der Dienstleistungssektor einen grösseren Anteil zum BIP beisteuert als die Warenproduktion und das Lohnwachstum in diesen Ländern sich wahrscheinlich abflachen wird.
In Deutschland wird das Wachstum der Fertigungsindustrie stark von den Exporten und der globalen Nachfrage beeinflusst. Es ist leider nicht zu erwarten, dass niedrigere Leitzinsen in Europa eine zündende Wirkung auf diese Wachstumstreiber haben. Die deutschen Exporte dürften wohl erst zulegen, wenn die chinesische Konjunktur wieder Fahrt aufnimmt und die Nachfrage seitens der USA ansteigt. Ohne substanzielle Leitzinssenkungen der Federal Reserve Bank ist dies allerdings eher unwahrscheinlich.
Der Dienstleistungssektor hat die grössten europäischen Volkswirtschaften zwar vor einer Rezession bewahrt. Laut Wolfgang von Hessling reicht das jüngst erzielte rapide Wachstum in den Peripheriestaaten jedoch nicht aus (und wird auch in Zukunft nicht ausreichen), um dem wahrscheinlichsten Konjunkturszenario - einem Null- bzw. marginal positiven Wachstum in Europa - entgegenzuwirken. Deutschland und Frankreich haben ein derartiges wirtschaftliches Gewicht in der Eurozone, dass die Leistung dieser beiden Länder für die wirtschaftliche Zukunft der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion ausschlaggebend ist.
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