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Market View & Insights
Wir alle wollen aus Fehlern lernen. Die schottische "Library of Mistakes" will dieses Mindset auch beim Anlegen fördern.
Eine Bibliothek der Finanzgeschichte: Das ist die Library of Mistakes. Sie wurde im Jahr 2014 im schottischen Edinburgh eröffnet. Im Schweizer Lausanne und im indischen Pune gibt es bereits Zweigstellen, weitere sind geplant. Neben einem Bücherbestand von 4500 Bänden bietet die Library of Mistakes Kurse, Vorträge, Podcasts und Webinare an. Mit Ausnahme der Kurse können sie alle kostenlos genutzt werden.
Wieso dieser Fokus auf historische Irrtümer? Nach eigener Aussage liess sich Russell Napier, der Gründer der Library, durch folgendes Zitat des US-amerikanischen Autors James Grant inspirieren: "In der Wissenschaft und im Ingenieurwesen ist der Fortschritt kumulativ, in Sachen Finanzen jedoch zyklisch."
Der studierte Jurist fing an, sich ernsthaft mit Wirtschaftswissenschaften zu befassen, nachdem er eine Stelle in der Vermögensverwaltung angetreten hatte. Schon bald realisierte er, dass die Lehrbücher sich auf Theorie und Markteffizienzhypothese konzentrierten, die menschliche Geschichte hingegen vernachlässigten. Nach seinem Eintritt bei CLSA in Hongkong merkte er, dass Branchenkolleginnen und -kollegen seine Begeisterung für Finanzgeschichte nicht teilten.
Insights hat sich mit Russell Napier über die Frage unterhalten, wieso umfassendere finanzgeschichtliche Kenntnisse für Anleger von Vorteil sein könnten.
Wieso sollte man überhaupt mehr über die Finanzgeschichte wissen - was hat Sie zu dieser Bibliothek bewogen?
Russell Napier: Nach meinem Stellenantritt in der Vermögensverwaltungsbranche gab man mir zahlreiche Fachbücher über Wirtschaft und ich legte in der Folge einige Prüfungen ab. Doch diese Bücher beschrieben meine erlebte Realität in der Wirtschaftstätigkeit nicht wirklich. Sie waren sehr theoretisch und sehr präzise. Doch sie waren in meinem Alltag nicht wirklich hilfreich.
Dann begann ich, mich mit Finanzgeschichte zu befassen, und plötzlich verstand ich die Beziehung zwischen der Welt der Ökonomie und meiner Aufgabe als Vermögensverwalter sehr viel besser. Geschichte setzt sich zusammen aus Begebenheiten, die real waren oder noch immer sind - während ein Grossteil der wirtschaftswissenschaftlichen Theorien die chaotischen Zustände der realen Welt in seinen Hypothesen einfach ausschliesst.
Doch wenn Sie einem Wirtschaftswissenschaftler zuhören, beispielsweise an einer Konferenz, dann können ganze Tage vergehen, ohne dass er die Börse oder den Anleihenmarkt - das heisst die beiden einzigen Themen, für die ich bezahlt wurde - auch nur erwähnt. So kam ich zum Schluss, dass ich mich an der Schnittstelle zwischen Wirtschaftswissenschaften und Anlagemärkten weiterbilden sollte. Ein praktikabler Ansatz bestand darin, ganz einfach die Geschichte ihrer Konvergenz zu lesen. Seit 1995 nutze ich diesen Ansatz in meiner Forschungsarbeit.
2001 bat man mich, einen Kurs in Finanzgeschichte aufzugleisen - 2004 fand er erstmals statt. Er trägt den Titel "Practical History of Financial Markets" (Eine praxisorientierte Geschichte der Finanzmärkte) und befasst sich mit der Schnittstelle zwischen den Finanzmärkten und der Ökonomie. Wir führten den Kurs erstmals im Jahr 2004 durch; bis heute zählt er zu den erfolgreichen Veranstaltungen an der Edinburgh Business School und findet sowohl online als auch physisch im Rahmen einer zweieinhalbtägigen Veranstaltung in London statt.
Es gibt nur noch wenige Dozierende, die nach wie vor Wirtschaftsgeschichte vermitteln; zudem haben die Universitätsbibliotheken einen Grossteil ihrer finanzgeschichtlichen Literatur ausgemustert. Im Finanzwesen herrscht der Leitgedanke vor, dass alle verfügbaren Informationen im Preis enthalten sind - dies nennt man "Markteffizienzhypothese". Es sind Menschen, die den Wert der Geschichte aberkennen, die dann Bibliotheken "aktualisieren" - also "wertlose Bücher" aussortieren. Und das sind oft Bücher zur Finanzgeschichte.
Wir erwerben alle diese Bücher. Unsere Bestände sind eine Mischung aus Finanzliteratur und geschichtlichen Werken; wir haben sie in die Bereiche Geschichte der Finanzinstitute, Geschichte der Märkte und Geschichte des Betrugs unterteilt.
Solche Werke zu sammeln und öffentlich zugänglich zu machen ist der Grund für all unsere Aktivitäten. Zunächst wollte ich mich ganz einfach selbst weiterbilden, aber unser System produziert am laufenden Band Studierte mit Abschlüssen in Finanzwirtschaft oder Wirtschaftswissenschaften, die nichts von Wirtschafts- oder Finanzgeschichte verstehen, und schon gar nichts von den Zusammenhängen zwischen diesen beiden Themenbereichen. Unsere Mission war somit klar: Wir wollen dieses völlig aus dem Lot geratene Verhältnis wiederherstellen.
Wieso stehen ausgerechnet Fehler im Mittelpunkt?
Russell Napier: Wenn Sie die Finanzgeschichte betrachten, ist sie voll von Fehlern. Pilotinnen und Piloten sind die einzige Berufsgruppe, die aus ihren Fehlern lernt - weil diese Fehler von einer "Black Box" aufgezeichnet werden, sodass man aus ihnen lernen muss. Wenn Sie eine finanzgeschichtliche Bibliothek aufbauen, wird das Thema "Irrtümer" Ihre Regale dominieren, da die Chancen bei Fehlern grösser sind, dass sie aufgezeichnet und in der Literatur behandelt werden. Daher heisst unsere Bibliothek "The Library of Mistakes".
Das Konzept dahinter geht auf den israelisch-amerikanischen Psychologen und Wirtschaftswissenschaftler Daniel Kahneman zurück, dem für seine Beiträge zum Verständnis der menschlichen Entscheidungsfindung unter unsicheren Umständen der Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften verliehen wurde. Genau das ist das durchgehende Thema der Finanzgeschichte: die Entscheidungsfindung unter unsicheren Gegebenheiten, die nicht selten Fehler nach sich zieht.
Wieso schätzt die Finanzbranche die Rolle der Geschichte derart gering?
Russell Napier: Es stellt sich die Frage, wieso gelernte Lektionen im Bereich der Wissenschaft nicht in Vergessenheit geraten, während sie in der Finanzbranche anscheinend alle sieben Jahre "obsolet" werden. Hierfür gibt es gute Gründe. In der Finanzbranche herrscht eine ausgeprägte Personalfluktuation. Dies führt dazu, dass die Personen, die einst die ursprünglichen Fehler gemacht haben, nicht unbedingt anwesend sind, wenn eine vergleichbare Situation eintritt. Alle Profis lernen aus ihren Fehlern, aber im Bereich Finance scheinen sie am langsamsten zu lernen.
Dieses Phänomen lässt sich letztendlich auf die Anreize und Boni zurückführen. Wenn ich Geld verwaltete und an Weihnachten sehr viel Lohn erhielte, hätte ich einen Anreiz, bis Weihnachten vorauszudenken. Es würde mir daher nichts ausmachen, zahlreiche historische Fehler zu ignorieren, da ich es ja nur bis Weihnachten schaffen müsste. Natürlich ist dies eine vereinfachte Darstellung der Anreizstrukturen, aber im Finanzwesen führen sie dazu, dass man nicht auf begangene Fehler zurückblickt, sondern lieber vorausschaut... Auf Weihnachten. So sollte Kapital nicht allokiert werden. Adam Smith, der Ökonom aus dem 18. Jahrhundert und Verfasser von "The Wealth of Nations", würde dieses Vorgehen ganz sicher nicht als Kapitalismus einstufen. Denn plötzlich gibt es für uns keine Anreize mehr, aus unseren Fehlern zu lernen. Stattdessen glauben wir, dass nächstes Mal sowieso alles anders kommt.
Auch in Betrieben kommt es vor, dass allzu kurzfristig gedacht wird, doch hier liegt das Problem eher im Portfoliomanagement, da hier äusserst kurzfristige Anreize vorherrschen. Wenn sich Ihre Anlage nicht gut entwickelt, verkaufen Sie sie nämlich ganz einfach. Das ist Ihr Exit. Wenn Sie ein Unternehmen sind und einen hohen Kapitalbetrag eingesetzt haben, ist ein Exit sehr schwierig. Ein Portfolio Manager sitzt dagegen an seinem Schreibtisch im Wissen, dass ein Exit jederzeit möglich ist. Dieses Bewusstsein fördert das kurzfristige Denken, weil es schliesslich immer eine Exit-Möglichkeit gibt.
In den letzten Jahren - vor allem seit der Pandemie und der rekordhohen Inflation - scheinen geschichtliche Rückblicke, etwa auf die Spanische Grippe oder die Inflation der 1970er-Jahre, wieder häufiger aufzutauchen. Glauben Sie, dass sich das Interesse an der Finanzgeschichte verstärkt hat?
Russell Napier: Ihre Frage gehört eher in den Bereich der Soziologie als in den Bereich der Finanzwirtschaft. Finanzgeschichte ist wichtig, aber wir haben sie allzu lange vernachlässigt und behauptet, dass sie nicht wirklich eine Rolle spielt. Allmählich dämmert uns ihre Bedeutung. Persönlich bezeichne ich die an den Universitäten vermittelte Finanzwirtschaft als einen Extrakt, in dessen Zentrum die Produktion von Zahlen steht. Wenn man etwas extrahiert, wirft man aber auch sehr viel "Restmaterial" weg. Allmählich merken wir, dass diese "Reststoffe" durchaus wichtig sind. Und so kommt es, dass wir sie nach und nach wieder einführen und nutzen.