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Nehmen wir an, Sie leben in einer Stadt. Was hören Sie, wenn Sie die Haustür öffnen? Vielleicht den brummenden Feierabendverkehr und heulende Sirenen - aber was noch?
Hören Sie das Gemurmel von Passanten, läutende Kirchturmglocken oder den flüsternden Wind in der Allee vor dem Haus? Möglicherweise nehmen Sie diese Geräusche eher selten wahr: Gerade einmal 10 Prozent von uns hören im Alltag richtig hin, was in einer Welt der Podcasts und kabellosen Bluetooth-Kopfhörer kaum überrascht. Falls Sie zu diesen wenigen Glücklichen gehören, wären Sie jedoch nicht der Erste.
Orlando Gibbons, ein Komponist aus dem frühen 17. Jahrhundert, hörte schon damals genau hin. In seinen Cries of London, einem fünfstimmigen Chorstück, zeichnete er die Rufe nach, die er damals in den Gassen von Shakespeares Stadt hörte: vom Tabakhändler bis zur Austernverkäuferin, die ihre Waren lautstark auf der Strasse anpriesen.
Im Laufe der Jahrhunderte haben sich die Geräusche verändert, doch die Menschen haben Gibbons und seine Faszination für urbane Klänge in unser Zeitalter transferiert. Mit modernen Aufnahmegeräten fangen Enthusiasten heute auf der ganzen Welt die hektische Vielfalt des grossstädtischen Klangteppichs ein. Wenn wir uns diese Aufnahmen anhören, können wir uns nicht nur entspannt zurücklehnen, während das Leben an uns vorbeirauscht - wir erfahren auch viel über den aktuellen Zustand und die Zukunftspläne unserer Städte. Aber natürlich nur, wenn wir uns auch die Zeit nehmen, unsere Ohren zu spitzen und hinzuhören.
Die Menschen waren schon immer vom Klang der Städte fasziniert. Bereits 1 500 Jahre vor Orlando Gibbons verbot Julius Cäsar angeblich das nächtliche Befahren der römischen Kopfsteinpflaster mit Streitwagen, während Maya-Tempel als eine Art architektonische Lautsprecher fungierten. Auch im Mittelalter blieben die verschiedenen Rufe überall in Europa erhalten, bis sie im 19. Jahrhundert schliesslich über den Atlantik nach Amerika gelangten. "Frischer Kabeljau, frischer Schellfisch! Schauen Sie her, greifen Sie zu", hiess es sinngemäss in einem Werbespruch aus dem Boston der 1840er-Jahre. "Hier ist Ihr Dinner, fangfrisch aus dem Meer."
Natürlich sind die modernen Geräuschkulissen oft verblüffend anders - und das nicht nur, weil es kaum noch Strassenhändler gibt und die römischen Streitwagen in den meisten Fällen Bussen und Trams gewichen sind. "Lärm ist relativ", erklärt Boutin. Sie meint damit, dass sich unsere städtischen Klangkulissen heute schwer mit denen aus einer Zeit ohne Lärmschutzvorschriften oder mechanische Bohrmaschinen vergleichen lassen.
Das können Sie ganz einfach nachvollziehen, indem Sie versuchen, Ihre Ohren nach einem Monat in den Bergen wieder an das Getöse einer Hauptverkehrsader zu gewöhnen. Das heisst jedoch nicht, dass zeitgenössische Klangforscher den Lärm der Moderne abgeschrieben haben. Im Jahr 2012 zum Beispiel gab es in einem Podcast Sound-Schnipsel aus allen Ecken Londons zu hören. In einem Clip quietschen und rattern etwa Züge. In einem anderen hört man das Gebrüll von Kindern während der Schulpause. In einem anderen Format haben zwei Ägypter die Klänge von Kairo aufgenommen, vom Gebetsruf der Muezzine bis zum Geklapper eines Pferdegespanns.
Während sich diese Formate immer auf eine Stadt konzentrieren, hat Steve Tanza seine Ohren auf eine breitere Frequenz eingestellt. Der britische Künstler, der beruflich unter dem Namen Stanza bekannt ist, hat mit Soundcities eine globale Datenbank für urbane Klänge entwickelt. Sie umfasst Hunderte von Einträgen aus Dutzenden von Städten, die von Stanza und einer Gruppe Freiwilliger zusammengetragen wurden. Sein Projekt vergleicht Stanza mit Musik, was er wie folgt zusammenfasst: "Je länger sich diese Aufnahmen bei der Wiedergabe aufbauen, desto mehr entsteht eine Kakophonie von Klängen."
Ein Blick auf die Website von Soundcities zeigt, wie treffend diese musikalische Analogie ist. Die Plattform ermöglicht es, Aufnahmen aus einer bestimmten Stadt übereinander zu legen und so eine Art "natürliche Fuge" zu komponieren, auch wenn jeder Klang auf einer interaktiven Karte einem bestimmten Ort zugeordnet bleibt. In Brüssel beispielsweise konkurriert das Gebrummel einer Zugdurchsage an der Zuidstation mit einem weinenden Baby auf dem Boulevard Poincaré. Weiter östlich trommelt in der Hamburger Max-Brauer-Allee Regen auf Metall, gleichzeitig erklimmt ein Jogger die Stufen der Wohlers Allee und ein Rettungswagen braust unter der Sternbrücke hindurch.
Stanza ist davon überzeugt, dass uns diese unterschiedlichen Geräusche ähnlich begeistern können wie echte Musik - egal, ob unterwegs auf der Strasse oder zu Hause am Laptop. In einer von Achtsamkeit besessenen Welt, in der unsere Aufmerksamkeit aus hundert Richtungen gleichzeitig beansprucht wird, können wir seiner Meinung nach lernen, die Kontrolle über das Gehörte zu übernehmen und so das "Aufmerksamkeitsdefizit" des modernen Lebens zu bekämpfen. Vor dem Hintergrund einer Studie aus dem Jahr 2015, nach der die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne des Menschen auf weniger als die eines Goldfischs gesunken ist, ist das wahrscheinlich auch gut so.
Manche Städte sind untrennbar mit ihren Geräuschen verbunden. Was wäre London ohne die Glockenschläge des Big Ben? Wäre Istanbul ohne den Klang der Nebelhörner auf dem Bosporus noch Istanbul? Das sind die berühmteren Beispiele, aber Trevor Cox kennt sie alle – auch die weniger bekannten. Hohe Frauenstimmen treffen auf das Klappern von Geschirr und Besteck. Laut dem Professor für Akustiktechnik an der University of Salford sind das die Klänge von Hongkong, insbesondere zur Mittagszeit, wenn viele Frauen ihre Wohnungen verlassen und die Einkaufszentren der Stadt für ihre regelmässigen Picknicks aufsuchen.
Diese präzise Komposition von Klängen und Geräuschen ist für Cox einzigartig für die ehemalige britische Kolonie. "Man hört sie nirgendwo sonst auf der Welt, denn diese Art des Zusammentreffens unterschiedlicher Geräusche findet nur dort statt", erklärt er. Und das ist wichtig. Denn so wie uns die Rufe mehr über das Leben unserer Vorfahren erzählen, können auch zeitgenössische Klanglandschaften die subtilen Feinheiten moderner urbaner Zentren offenbaren.
Stanza erklärt das am Beispiel von Kalkutta in Indien. Überall brummt und hupt es, doch wenn sich der Verkehr staut, hört der Lärm plötzlich auf. Stanza sagt, Kalkutta sei das Gegenteil der meisten westlichen Städte - und bringt es damit auf den Punkt. Das Hupen ist hier kein Zeichen von Wut oder Ärger, sondern eine Art wortlose Sprache, mit der die Verkehrsteilnehmer andere Fahrzeuge und Fussgänger auf sich aufmerksam machen. Verlangsamt sich jedoch der Verkehr, verschwindet die Notwendigkeit, sich durch Hupen bemerkbar zu machen. "Den gleichen Klangteppich erlebt man in verschiedenen Städten auf völlig unterschiedliche Weise", schwärmt Stanza. "Das ist wunderbar."
Bei Soundcities kann man somit viel über andere Orte auf dieser Welt erfahren. Auf der Seite "Triest" hören Sie zum Beispiel den berühmten Bora-Wind, der die Via Guglielmo Marconi hinaufweht. Das passt perfekt zu einer Küstenstadt an der Spitze der Adria, einem Meer, das Brisen wie mit Trompeten in die Luft bläst. Wer sich auf eine Soundreise nach Bangkok begibt, hört das Dröhnen klappriger Motorräder - es erinnert daran, wie Übervölkerung und hohe Luftfeuchtigkeit Thailand zur Rollerhauptstadt der Welt gemacht haben. In Tallinn hört man russische Gesänge, was nicht überrascht in einer Stadt, in der Esten seit Langem Seite an Seite mit ihren slawischen Nachbarn leben.
Achten Sie darauf, wie sich Klanglandschaften verändern - vielleicht erhaschen Sie so bereits den Klang der Zukunft. Auch wenn sich viele Geräusche in Kairo über die Zeit erhalten haben, sind Pferdefuhrwerke und Handwagen der Regierung ein Dorn im Auge. Die Tatsache, dass Kairos berühmtes "Geklapper" bald für immer verschwinden könnte, ist auch ein Hinweis auf den zunehmend autoritären Stil des Sisi-Regimes. In Pontevedra oder Ljubljana ist das Brummen von Verbrennungsmotoren hingegen kaum zu hören - ein anschauliches Beispiel für den neuen, grünen Urbanismus in all seiner Pracht.
Letzteres wirft eine weitere Frage auf: Wenn die Autos aus den Stadtzentren verschwinden, können wir dann endlich die Geräuschkulisse unserer Vorfahren wiederbeleben? Aimée Boutin ist sich da nicht sicher. Sie gibt zu bedenken, dass unsere Städte zu schnell gewachsen sind, als dass wir diese verlorenen Klangwelten wiederauferstehen lassen könnten. "Wenn man aber weiss, wohin man sich begeben muss, kann man ihnen zumindest sehr nahe kommen", findet Boutin. Als Beispiel erwähnt sie das Herz Londons mit seinen mittelalterlichen Gassen und Plätzen. Sie kann sich gut vorstellen, dass die dichte Bebauung noch "etwas davon einfangen könnte, wie die Stadt früher einmal geklungen hat". Ein schöner Gedanke, bei dem Orlando Gibbons, der Komponist aus dem 17. Jahrhundert, sicherlich die Ohren spitzen und lächeln würde.
Strassen in Mumbai, Indien
| Strasse in Tokyo, Japan
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Metro in Paris, Frankreich
| Park in London, England
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Markt in Bangkok, Thailand
| Strasse in Bologna, Italien
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Strasse in New York, USA
| Hafen in Essaouira, Marokko
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