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Market View & Insights
Der Unternehmer, Forscher und Informatiker Richard Socher erwartet, dass die rasanten Fortschritte in der künstlichen Intelligenz nicht nur die Web-Suche revolutionieren, sondern im Verbund mit Automatisierung fast keine Branche unberührt lassen werden.
Herr Socher, die meisten Menschen glauben zu wissen, wofür künstliche Intelligenz (KI) steht. Vielleicht wäre Ihre Definition als Experte hilfreich.
Wir definieren KI als ein Gebiet der Informatik, das anfangs versucht, die menschliche Intelligenz nicht nur nachzuahmen, sondern letztlich über unsere Fähigkeiten hinauszugehen. Es gibt verschiedene Arten von Intelligenz: die visuelle Intelligenz, die in der Computer Vision abgebildet wird, damit Rechner Bilder, Videos und die visuelle Welt verstehen. Dann gibt es die motorische Intelligenz. Die ist im Tierreich nicht so einzigartig, aber es ist dennoch nicht einfach, sie nachzubilden, und das lässt sich auf die Robotik übertragen. Das Verstehen natürlicher Sprache ist meiner Meinung nach die interessanteste Ausprägung der menschlichen Intelligenz. Die Fähigkeit, Sprache zu verstehen und auch zu erzeugen, ist die Art von Intelligenz, die uns am meisten von anderen Tieren unterscheidet und die obendrein eng mit Kultur, Geschichte, Wissen, Denken und allem anderen verbunden ist. In finanzieller Hinsicht ist es auch gerade dieser Bereich der KI, in dem sich momentan am meisten tut. Bei Suchmaschinen, Werbung und Übersetzung steht immer die natürliche Sprache am Anfang.
Hat derart intelligente Software ihre menschlichen Schöpfer bereits überflügelt?
Wir haben KI erweitert und können jetzt Dinge tun, die kein Mensch leisten könnte, etwa eine Proteinsequenz lesen und ein völlig neues Protein erstellen. Wir Menschen sind nicht in der Lage, lange Reihen von Aminosäuren zu lesen und die Sprache der Proteine zu verstehen, aber KI kann Milliarden von Dokumenten oder Milliarden von Proteinsequenzen lesen. Bei biomedizinischen Anwendungen ist die KI der menschlichen Intelligenz bereits weit überlegen. Das Gleiche gilt übrigens für viele andere Dinge, etwa Geschäftsprozesse. Wenn eine KI Millionen von Dokumenten lesen kann, kann sie erkennen, wann voraussichtlich ein Motor ausfällt, und eine vorbeugende Wartung veranlassen.
Es gibt noch eine andere Variante der KI, die derzeit die meiste Aufmerksamkeit erhält: die sogenannte generative KI. Wie unterscheidet sich diese Technologie von dem, was Sie gerade beschrieben haben?
Der Unterschied zur vorherigen Welle der Intelligenz war, dass diese nur Inputs viel besser verstehen konnte. Jetzt sind wir auch sehr gut darin geworden, solche Eingaben zu erzeugen. Man kann generative KI einsetzen, um Code, Aufsätze und Artikel schreiben zu lassen. Man kann sie benutzen, um Bilder zu generieren, und als nächstes wird Musik folgen. Irgendwann wird KI in der Lage sein, komplexe Filme zu erzeugen. Die generative KI hat in letzter Zeit eine Menge Fortschritte gemacht, daher die grosse Aufregung.
Google und Microsoft wollen Milliarden ausgeben, um intelligenten Chat in die Suche einzubauen. Sie selbst haben auch eine Suchmaschine namens you.com gegründet, die jetzt eine Chatfunktion hat. Wie wird das die Art und Weise verändern, wie wir online nach etwas suchen?
In den kommenden sechs Monaten oder so wird sich die Suche mehr verändern als in den letzten 20 Jahren. Search wird viel nützlicher, interaktiver und leistungsfähiger werden. Es wird nicht nur eine Liste blauer Links sein, sondern stattdessen eine Chatfunktion, bei der man einfach Fragen stellt.
Abgesehen von Chatbots und der Suche - was sind die vielversprechendsten Anwendungen für KI, die bereits im Einsatz sind oder sich am Horizont abzeichnen?
KI wird jede Branche verändern, die Daten jeglicher Art sammeln kann und in der es sich wiederholende Prozesse gibt. In der Landwirtschaft zum Beispiel kann man schon heute einen Traktor durch ein Feld fahren lassen, und er erkennt, was Unkraut und was Salat ist. Er wird dann nur das Unkraut jäten oder mit einer genau passenden kleinen Menge Herbizid besprühen, und außerdem weniger Wasser verbrauchen. Und dann ist da noch das Gesundheitswesen. Automatisierung in Verbindung mit KI kann Radiologen effizienter machen, indem sie einfache Dinge wie das Lesen eines Röntgenbildes übernehmen. Schließlich die Büroarbeit. Jedes Mal, wenn Sie eine E-Mail oder Marketingunterlagen schreiben müssen oder ein Bild brauchen, kann KI helfen. Wenn wir auf kreative Weise neue Ideen oder Fragen entwickeln wollen, können wir einen KI-Experten fragen. Sie können eine beliebige Branche anführen, und ich kann Beispiele dafür nennen, was KI verbessern könnte.
Gibt es Berufe, in denen KI in absehbarer Zeit keine Rolle spielen wird?
Das werden vor allem Branchen sein, die nicht genug Umsatz machen und nicht genug wiederholbare Prozesse haben. Individualisierte Hausreinigung zum Beispiel. Es ist sehr schwierig, dafür viele Daten zu sammeln, da jedes Haus anders ist. Jeder Haushalt sortiert seine Wäsche etwas anders und ist auf seine spezielle Weise verwinkelt. Niemand wird 100.000 Beispiele sammeln, wie ich mein Haus putze, und deshalb wird es schwieriger sein, eine Putz-KI zu entwickeln. Außerdem hat die Robotik mit der Feinmotorik zu kämpfen. Aus diesem Grund haben Robotik und KI auch in der Chirurgie nicht so große Fortschritte gemacht, wie man glauben könnte. Es gibt außerdem viele Berufe, für die menschliche Interaktion, Empathie und Mitgefühl gefragt sind. Solche Jobs werden auch in Zukunft weiter gedeihen.
Die meisten Experten erwarten, dass die Kombination aus künstlicher Intelligenz, Automatisierung und Robotik viele Arbeiter- und Angestelltenjobs überflüssig machen wird. Was werden diese Menschen tun?
Kurzfristig müssen wir Lösungen für lebenslanges Lernen finden. Die Vorstellung, dass man in seinen 20ern eine Fähigkeit erlernt und dann in den nächsten 30 bis 50 Jahren nur noch diese Fähigkeit ausübt und nicht mehr viel Neues lernt, ist nicht mehr tragfähig. Der Mensch verfügt über eine Art Schwarmintelligenz, mit der er neue Ideen entwickeln kann, daher bin ich sehr optimistisch, dass wir langfristig neue, interessante Aufgaben finden werden. Es werden immer mehr neue Berufe entstehen, da die Hürden für die Entwicklung neuer Anwendungen, Projekte und Programme immer niedriger liegen.
Technologie schreitet sehr schnell voran, oft schneller, als Politiker oder Regulierungsbehörden reagieren können. Müssen wir dringend Leitplanken für die KI-Entwicklung setzen?
Ich halte es für schwierig, bei KI die Grundlagen und die Forschung zu regulieren. Aber wenn KI spezifische Anwendungen berührt, macht es natürlich sehr viel Sinn, sie zu regulieren, zum Beispiel im medizinischen Bereich. Es ist unglaublich schwer, etwas völlig Neues zu entwickeln, und je weniger Beschränkungen man hat, desto wahrscheinlicher ist es, dass man es tatsächlich umsetzen kann. Wenn es dann wirklich funktioniert, sollte man aber über die spezifischen Anwendungen nachdenken und diese regulieren - sei es im Verkehrswesen, im Gesundheitswesen, bei Banken, Versicherungen und vor allem in der Kriegsführung.
KI-Systeme machen bereits Fehler, etwa wenn sie bei Entscheidungen menschliche Vorurteile oder "Bias" einfließen lassen. Kann Software überhaupt ethisch handeln, oder geht es darum, die Fehler ihrer Programmierer zu korrigieren?
In vieler Hinsicht ist KI nur so gut wie die Menschen, die Systeme und die Daten, die sie beeinflussen. KI ist eine "Dual Use"-Technologie. Man kann demselben Algorithmus beibringen, Bilder von Krebszellen oder Gehirnscans zu klassifizieren, oder man kann ihn auf Drohnenfotos von Panzern trainieren, damit er entscheidet, ob geschossen wird. Hier kommen die Vorschriften und die Ethik ins Spiel. Je mehr KI das Leben der Menschen berührt, desto wichtiger ist es, darüber nachzudenken, wie sich die Ergebnisse auf uns auswirken. Ethische KI umfasst ein sehr breites Spektrum dieser Anwendungen und macht sich Gedanken darüber, wann KI menschliche Vorurteile verstärkt. Ein Beispiel: Wir sollten keine historischen Daten mit potenziell rassistischen oder sexistischen Mustern verwenden, um mit diesen vorurteilsbehafteten Daten heutige Entscheidungen zu automatisieren, wie es im Banken- oder Justizwesen zuweilen passiert.
Zur Person
Der in Deutschland geborene Informatiker Richard Socher (39) gilt als einer der aufstrebenden Stars der KI. Nach seiner preisgekrönten Promotion an der Stanford University zum Thema "Deep Learning und natürliche Sprachverarbeitung" entschied sich Socher gegen eine akademische Laufbahn und konzentrierte sich stattdessen darauf, seine Erkenntnisse zu kommerzialisieren. Sein KI-Startup MetaMind wurde 2016 von Salesforce aufgekauft, wo Socher dann als Chief Scientist arbeitete. Nach seinem Ausscheiden aus dem Unternehmen im August 2020 startete Socher eine Suchmaschine namens you.com und gründete AIX Ventures, um in vielversprechende KI-Unternehmen zu investieren.