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Market View & Insights
Mehr als einmal stand William Ury im Zentrum der Verhandlungen zur Beilegung der komplexesten Konflikte der Welt. In diesem Interview spricht er über seine Erkenntnisse zur Entschärfung der schwierigsten Pattsituationen.
William Ury: Zunächst - es ist lange her - befasste ich mich als Ethnologe mit Menschen und ihren Verhaltensweisen. Ich wuchs im Schatten der Atombombe auf, was mir deutlich vor Augen führte, dass wir lernen müssen, mit unseren Differenzen auf eine gute Art umzugehen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass wir zugrunde gehen. Meine Schulzeit verbrachte ich zudem an einer internationalen Schule in der Schweiz mit Kindern aus aller Welt. Hier begann ich, mich im wahrsten Sinn des Wortes als Weltbürger zu fühlen. Diese Erkenntnisse wollte ich in die Praxis umsetzen, daher engagierte ich mich vor vielen Jahren in der Verhandlungsführung, da Verhandlungen die einzige Alternative zu gewaltsamen Auseinandersetzungen sind. Ob vor Gericht, bei verbissenen Machtkämpfen in Unternehmen oder im Krieg - Verhandlungen sind der einzige Ausweg.
Verhandlungen sind zutiefst menschlich. Grundsätzlich geht es um einen kommunikativen Austausch mit dem Ziel, ein Problem einvernehmlich beizulegen. Dies kann ein kleines oder ein grosses Problem sein, etwa mit einer Kollegin oder einem Kollegen, mit Investorinnen und Investoren, mit einem anderen Land oder innerhalb der eigenen Familie. Wenn ich Befragungen in Unternehmen und bei führenden Geschäftsleuten vornehme und wissen will, wie viel ihrer Zeit sie mit Verhandlungen verbringen, lauten die Antworten zumeist "mindestens 50 Prozent". Wenn Sie die Verhandlungen in Ihrem Inneren - für uns Menschen sind diese Verhandlungen mit uns selbst die allerschwierigsten - dazurechnen, fällt dieser Prozentsatz noch höher aus. Es gibt grundlegende, allgemeingültige Prinzipien, wie man eine Situation angehen sollte, in der häufig auch ausgeprägte Egos, heftige Emotionen, starre Positionen und Drohungen zum Tragen kommen. Wie kommen Sie zu kreativen Lösungen, die beiden Parteien oder besser gesagt allen Parteien etwas bringen und auch dem gemeinschaftlichen Umfeld nützen?
Der grösste Stein wird uns nicht von der komplizierten und mühsamen Person auf der anderen Seite des Verhandlungstischs in den Weg gelegt: Wir legen ihn uns selbst in den Weg. Als Menschen haben wir eine angeborene, sehr nachvollziehbare Tendenz, aus Angst und Wut zu reagieren. Die Grundlage für erfolgreiche Verhandlungen liegt meiner Ansicht nach in der Fähigkeit, Einfluss auf sich selbst auszuüben. Es geht darum, sich geistig und emotional auf einen metaphorischen Balkon zu begeben, d. h. an einen Ort, der Ruhe und Perspektiven bietet. Der Weg dorthin ist individuell verschieden. Ich persönlich gehe spazieren oder wandern; andere machen Pause oder treiben Sport. Nur wer mit sich im Reinen ist, kann verhandeln.
Ein offenes Ohr und Kreativität sind die Grundlage dafür, dass wir unserem Gegenüber etwas bieten können.
Der Balkon funktioniert wie die Linse einer Kamera: Sie können das heranzoomen, was Sie wirklich wollen. Aber - da gibt es auch ein Gegenüber, eine Person, die ganz andere Dinge anstrebt. Beide Seiten haben die Tendenz, sich zu verbohren. Je heftiger Sie drängen, desto heftiger drängt die andere Seite zurück. Wie kommen wir aus dieser Falle wieder heraus? Hier kommt die "goldene Brücke" zum Tragen. Zwischen Ihnen und Ihrem Gegenüber liegt eine Kluft. Und diese Kluft ist bis zum Rand angefüllt: mit unbefriedigten Bedürfnissen aller Art, mit Unzufriedenheiten, mit Befürchtungen davor, dass man schwach wirken könnte. Wenn Sie eine goldene Brücke bauen wollen, müssen Sie Ihren Standpunkt kurzfristig verlassen - ohne Ihre wesentlichen Ziele aufzugeben - und sich auf die andere Seite begeben. Wie sieht die Situation von dort aus? Was liegt Ihrem Gegenüber wirklich am Herzen? Unsere Aufgabe besteht darin, den Weg dorthin, wo wir hinmöchten, für unser Gegenüber leichter zu gestalten. Ein offenes Ohr und Kreativität sind die Grundlage dafür, dass wir unserem Gegenüber etwas bieten können.
Für mich ist es eine besonders hilfreiche Übung, sich ganz am Anfang hinzusetzen und eine Siegesrede im Namen des Gegenübers zu verfassen, also im Namen Ihrer Investorinnen und Investoren, Ihrer Geschäftspartnerinnen und -partner oder Ihrer Bank. Stellen Sie sich vor, dass Ihr Gegenüber sich mit Ihrem Vorschlag einverstanden erklärt. Jetzt stellen Sie sich vor, dass Ihr Gegenüber sich seiner Trägerschaft erklären muss. Was wären die drei wesentlichen Agendapunkte? Mit diesem Ansatz kommt Ihre Fantasie in Schwung. Nun können Sie den Weg in umgekehrter Richtung ebnen, vom Ziel zurück zu Ihrer aktuellen Ausgangsposition.
Menschen sind die kooperativsten Wesen auf dem Planeten Erde - und vielleicht auch die konfrontativsten.
Wenn Sie auf den Balkon hinaustreten, kommen Sie mit sich selbst ins Reine. Wenn Sie eine goldene Brücke bauen, kommen Sie mit Ihrem Gegenüber ins Reine. Es gibt aber noch eine Säule - die dritte Seite, nämlich unser Umfeld. In Konfliktsituationen haben wir die Tendenz, alles auf nur zwei Seiten zu beschränken: Belegschaft gegen Unternehmensleitung, Vertrieb gegen Produktion, eine Geschäftspartnerin gegen den anderen Geschäftspartner. Tatsächlich gibt es nie nur zwei Seiten in einem Konflikt, sondern immer auch noch eine dritte. Wenn Sie Freundinnen oder Freunde, Verbündete, Nachbarinnen oder Nachbarn, Verwandte oder Familienmitglieder einer der beiden Seiten beiziehen, schaffen Sie eine Art Gefäss für die mit dem Konflikt verbundenen Probleme und damit das Potenzial für eine schrittweise Veränderung. Sie sind auf alle drei Säulen zusammen angewiesen.
Der Umgang mit der Geschäftswelt ist ein klein wenig einfacher, da hier zählt, was unter dem Strich herauskommt. In der Politik kann die Eskalation eines Konflikts zu einem Machtzuwachs führen. In der Geschäftswelt fliesst Ihnen jedoch das Geld davon, wenn Sie Konflikte eskalieren lassen. Geschäftsleute verfügen über eine Art Rückmeldungsmechanismus, etwa bei Rechtsstreitigkeiten, die monatlich Millionen Dollar verschlingen - nur um das Gegenüber zu bekämpfen.
Menschen sind die kooperativsten Wesen auf dem Planeten Erde - und vielleicht auch die konfrontativsten. Unsere Doppelnatur lässt uns also die Wahl. Wir können agieren. Wenn ich gefragt werde, ob ich ein Optimist oder ein Pessimist bin, sage ich meistens, ich sei ein Possibilist, d. h. eine Person, die an das Potenzial des Menschen glaubt. Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie Menschen in ganz verschiedenen Weltgegenden Konflikten eine neue Wendung gegeben haben. Vielleicht wird er nicht beigelegt, vielleicht ist eine Beilegung nicht realistisch, aber er kann statt einer destruktiven eine konstruktive Form annehmen.
Genau deswegen habe ich mein neustes Buch geschrieben. Wir leben in einem Zeitalter der Konflikte, und die Zeichen am Horizont deuten eher auf zusätzliche als auf weniger Konflikte hin. Für mich lautet die zentrale Frage: Wie navigieren wir durch diese Konflikte, wie segeln wir durch den Sturm? Stürme entziehen sich unserer Kontrolle, Boote und Zielrichtungen nicht. Und das ist effektiv der "Path to possible" bzw. der Weg zum wahrscheinlich Möglichen.
William Ury studierte an der Universität Yale und doktorierte an der Universität Harvard, bevor er zu einem der erfahrensten Verhandlungsexperten wurde. Zusammen mit dem früheren US-Präsidenten Jimmy Carter hat er das International Negotiation Network gegründet; er engagierte und engagiert sich für die Entschärfung von Konflikten, beispielsweise im Balkan und im Nahen Osten. Die Arbeiten von William Ury legten die Basis für die moderne Verhandlungstheorie, einschliesslich des BATNA-Konzepts (Best Alternative To a Negotiated Agreement bzw. beste Alternative zu einer ausgehandelten Vereinbarung). Er lebt in Boulder, Colorado.