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Unternehmertum

Generative KI fürs Unternehmen: Der Teufel steckt im Detail

Unternehmen und Investoren wollen den jüngsten KI-Boom für sich nutzen. Aber es ist keineswegs klar, welche Art von generativer KI tatsächlich Produktivität und Gewinn steigert. 

Datum
Autor
Steffan Heuer, Gastautor
Lesezeit
5 Minuten

Kopf mit Datensträngen
© GettyImages/Yuichiro Chino

Nehmen Sie eine beliebige Branche, und die Chancen stehen gut, dass es mindestens eine Handvoll, wenn nicht mehr Unternehmen gibt, die mit modernsten Tools rund um künstliche Intelligenz (KI) werben, um erstaunliche Produktivitäts- und Effizienzsteigerungen zu erzielen und einen Wettbewerbsvorteil zu erlangen. Anwaltskanzleien können Berge von Dokumenten leichter zusammenfassen, lautet das Versprechen, Programmierer können besser coden denn je, und das Marketingteam kann überzeugende Kampagnen planen.

Alles in allem sind die Prognosen für die Auswirkungen generativer KI enorm. Uneinigkeit besteht allenfalls im Blick auf die Höhe des zu erwartende Booms. Die Berater von McKinsey etwa schätzen, dass der Effekt von generativer KI das BIP des Vereinigten Königreichs in den Schatten stellen könnte, das im Jahr 2021 bei USD 3,1 Billionen lag. Der Grossteil des Zuwachses, so die Berater, werde in nur vier Bereichen erzielt werden: Kundenbetreuung, Marketing und Vertrieb, Software-Engineering sowie Forschung und Entwicklung.

ChatGPT
© Istockphoto/JuSun

Generative Werkzeuge, die lernen
Diese Vision treibt Investoren an, Geld in einen Bereich zu investieren, der nicht ganz neu ist, aber durch den Start von ChatGPT Ende 2022 förmlich elektrisiert wurde. KI-bezogene Unternehmen (wobei die Definition etwas schwammig ist) haben in der ersten Hälfte des Jahres 2023 mehr als USD 25 Milliarden an Risikokapital eingesammelt, was 18 Prozent des gesamten weltweit investierten Wagniskapitals entspricht.

Der Kaufrausch wirft die Frage auf, was der Vormarsch von generativen KI-Tools, die scheinbar wie ein Mensch schreiben und denken können, für den täglichen Betrieb und die Geschäftsprozesse bedeutet. Es gibt durchaus überzeugende Beispiele dafür, dass KI-Systeme nützlich sind, wenn es darum geht, grosse Datenmengen zu sichten, von Dokumenten bis hin zum Aufspüren hartnäckiger Probleme in Produktionslinien oder bei Kundenkontakten.

Ein Beispiel ist der Wunsch, den bislang nicht wirklich geschlossenen Kreislauf zwischen Kundendienst, Programmierern und Produktentwicklung endlich zu schliessen. Nur selten haben Callcenter-Mitarbeiter mit traditionellen Tools einen ganzheitlichen Überblick, welche ungelösten Tickets sich gerade aufstauen und welche Probleme sich häufen, geschweige denn können sie sich leicht mit Programmierern und Produktmanagern austauschen, um Prioritäten zu setzen, was als Nächstes verbessert oder entwickelt werden sollte. Eine generative KI, die über die Silogrenzen hinwegschaut, löst das Problem.

Callcenter
© Shutterstock/4 PM production

Effizienzgewinne durch generative KI-Technologien
In manchen Fällen können Experten den Effekt durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz bereits mit konkreten Zahlen belegen. Als Forscher des MIT und der Stanford University sich Callcenter genauer ansahen, fanden sie heraus, dass der Zugang zu einer Gesprächs-KI die Produktivität um rund 14 Prozent steigerte, wobei unerfahrene und weniger qualifizierte Mitarbeiter sogar noch stärker profitierten. Ihr Fazit: Ein KI-Chatbot "verbessert die Stimmung der Kunden, verringert die Zahl der Anfragen ans Management und erhöht die Mitarbeiterbindung."

Code
© Istockphoto/RapidEye

Doch den Möglichkeiten der KI sind Grenzen gezogen, wie der langjährige Branchenkenner Bob Goodson sagt. Er gründete vor mehr als einem Jahrzehnt ein Unternehmen namens Quid, um Firmenkunden dabei zu helfen, eine Flut schriftlicher Informationen - von Nachrichten über Patente bis hin zu sozialen Medien - zu visualisieren und vor der Konkurrenz relevante Trends zu entdecken.

Im Herbst hat sein Unternehmen KI in die Suchfunktion integriert, allerdings nur mit strengen Auflagen. "Wenn Nutzer direkten Zugang zu einem grossen Sprachmodell (Large Language Model, LLM) erhalten, mag es ihnen auf den ersten Blick wie pure Magie erscheinen, aber es bringt echte Probleme mit sich", erklärt er seinen eher zurückhaltenden Ansatz. "Es fehlt an Transparenz. Man weiss nicht, wie die Antworten zustande kommen und wie man sie überprüfen kann - selbst wenn sie perfekt klingen."

KI-basierte Anwendungen bewusst einsetzen
Goodson schlägt deshalb vor, KI-Tools an die Leine zu legen. Im Fall seines Unternehmens helfen sie beispielsweise nur bei der Formulierung von Suchanfragen. Die Software wird mit ein paar Stichwörtern gefüttert und erstellt daraus eine komplexe Suchanfrage, für die ein Mensch bis zu einer halben Stunde benötigen würde. Nutzer können die fertige Anfrage immer noch überprüfen und bearbeiten sowie die Quellen unter die Lupe nehmen. "Wir machen aus einer Blackbox eine gläserne Box", fasst Goodson dies in ein Bild.

Gläserne Box
© GettyImages/PM Images

Er glaubt, dass generative KI-Tools als derartige Erweiterungen enorme Produktivitätssteigerungen freisetzen werden, als "Katalysatoren für die meisten der weltweit bereits existierenden Softwareprodukte". Die anfängliche Faszination für generative KI, so warnt er, wird verfliegen und einen Vertrauensverlust in der Öffentlichkeit bewirken. Diese reinigende  Korrektur wird jedoch zu einem echten Produktivitätsschub führen, erwartet Goodson - so wie sich Technologie in der Regel weiter entwickelt, wenn der erste Hype verpufft und Anwender in Unternehmen einen greifbaren Nutzen fordern.

Viel Wildwest bei generativer künstlicher Intelligenz
Amit Joshi, Professor für KI, Analytik und Marketingstrategie am International Institute for Management Development (IMD) in Lausanne, ist ebenso zurückhaltend. Als Grund sieht er die aktuellen Abläufe und die oft veraltete IT-Architektur der meisten Unternehmen. "Die Gefahr besteht darin, dass sich Unternehmen in das glänzende neue Spielzeug verlieben und dabei die Grundlagen vergessen, wie etwa angemessene Datensammlung und -speicherung, Datenbereinigung und die Einhaltung von Vorschriften. All das muss geschehen, bevor spannende Anwendungen erforscht werden können", schrieb Joshi kürzlich in einem Artikel mit dem mahnenden Titel "Generative AI: go ahead, but proceed with caution."

...noch zersplittert
© Shutterstock/REDPIXEL.PL

In einem Interview fügt er hinzu, dass der Markt immer noch weitgehend ein höchst bunter Flickenteppich ist: "Es gibt viele Unternehmen, die sich bei reiner IT schwer tun." Insgesamt sieht Joshi noch zu viel "Wildwest und Herumprobieren" und plädiert "im Grossen und Ganzen für eine abwartende Haltung. Es ist ungewiss, in welche Richtung sich generative KI entwickeln wird. Deshalb machen massive Investitionen in ein einzelnes LLM keinen Sinn."

Aus diesem Grund verlagert sich die Aufmerksamkeit derzeit auf vertikale KI-Anwendungen, also auf genau jene Sorte von Hilfsprogrammen, die Experten wie Goodson befürworten. Verbesserungen an bestehenden Systemen können auch die Anforderungen an Datensicherheit, Compliance und Prüfpfade, die ein Unternehmen einhalten muss, besser berücksichtigen. Diese Art der Augmentation, so der MIT-Ökonom Erik Brynjolfsson kürzlich in einem Interview, "schafft neue Fähigkeiten und neue Produkte und Dienstleistungen, die am Ende weitaus mehr Wert schaffen als eine rein menschenähnliche KI."

Was unterm Strich die Produktivität tatsächlich steigert, sorgt allerdings nicht annähernd für so spannende Schlagzeilen wie ein vermeintlich einfühlsamer Chatbot.

Drei Fragen an Tobias Aellig, Equity Analyst der LGT Bank

Was ist die Anlagethese der LGT in Bezug auf Künstliche Intelligenz und speziell generative KI?
Künstliche Intelligenz ist nicht mehr neu, aber ChatGPT hat ihre Fortschritte und ihr disruptives Potenzial in verschiedenen Branchen sehr deutlich gemacht. Wir verfügen jetzt über die Modelle und die Rechenleistung, um aus der massiven Datenexplosion der letzten Jahre Nutzen zu schlagen. Wir glauben, dass Künstliche Intelligenz nach der PC-, Internet- und Smartphone-Ära der nächste Schritt in der Evolution der Computertechnologie sein wird. Es gibt viele Anwendungsfälle für Unternehmen, um Produktivität und Innovation zu steigern.

Tobias Aellig, Equity Analyst der LGT Bank
Tobias Aellig, Equity Analyst der LGT Bank

Welche Sektoren und spezifischen Unternehmen bieten die besten Chancen?
In dieser frühen Phase der Einführung, in der die Gewinner und Verlierer in den Branchen noch nicht bekannt sind, bevorzugen wir Hardwareanbieter und die grossen Technologieunternehmen. Halbleiterunternehmen stellen die Rechenleistung zum Trainieren und Einsatz der Modelle bereit, egal wer auf den Endmärkten davon profitieren wird. Die Big Techs sind in der gesamten KI-Wertschöpfungskette gut positioniert. In einem späteren Stadium, wenn es um die Vertikalisierung in einzelnen Branchen geht, sehen wir Unternehmen mit besonders qualifizierten Datensätzen im Vorteil.

Welche Risikofaktoren und Variablen könnten diese Entwicklung negativ beeinflussen?
Da Künstliche Intelligenz das Potenzial hat, viele Aspekte unseres Lebens zu verändern, braucht sie einen angemessenen rechtlichen Rahmen. Es gibt viele Fragen, die geklärt werden müssen, von juristischen bis hin zu gesellschaftlichen Aspekten, und das dauert. Daher sollten wir bei aller Aufbruchstimmung das Gesetz von Roy Amara nicht vergessen: "Wir neigen dazu, die Auswirkungen einer Technologie kurzfristig zu überschätzen und langfristig zu unterschätzen." Nicht vergessen dürfen wir auch mögliche technologische und geopolitische Risiken. 

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