The Strategist

Disinflationärer Gegenwind?

Das Jahr 2023 hält für Anleger zahlreiche Herausforderungen bereit. Die mit Abstand grösste dürfte das Auseinanderdriften von Realwirtschaft und Aktienmärkten sein.

Datum
Autor
Thomas Wille
Lesezeit
10 Minuten

Bäume im Wind
© shutterstock

Der Technologieindex Nasdaq hat aufgrund des Hypes rund um das Thema «Künstliche Intelligenz» (KI) ein extrem starkes Halbjahr aufgewiesen. Gleichzeitig waren es schwierige sieben Monate insbesondere für die «Bären», die sich nur auf die fundamentale Analyse beschränkten und verhaltensökonomische Faktoren, Positionierung oder Markttechnik nicht berücksichtigten. Eine defensive Positionierung konnte durch spannende Anlagethemen wie «KI» oder «Reshoring» ausgeglichen oder zumindest abgefedert werden.

Gewinnrezession – nur aufgeschoben?

Trotz hoher Inflationsraten in der westlichen Welt und des damit einhergehenden Drucks auf Unternehmensmargen ist es sowohl in den USA als auch in Europa nicht zu der befürchteten Gewinnrezession wie nach der Implosion der Dotcom-Blase und der grossen Finanzkrise gekommen, sondern lediglich zu einer wirtschaftlichen Verlangsamung. Dies liegt vor allem daran, dass das Umsatzwachstum der Unternehmen in der Regel sehr stark mit dem nominalen Wirtschaftswachstum der Volkswirtschaften korreliert. Das nominale Wirtschaftswachstum wird in den USA je nach Inflationsrate im Gesamtjahr 2023 zwischen 4 und 5 Prozent liegen. Das ist in etwa so, als ob die USA bei einer Inflationsrate von 2 Prozent ein reales Potenzialwachstum von 2 Prozent hätten.

Es liegt auf der Hand, dass im aktuellen wirtschaftlichen Umfeld nicht alle Unternehmen in der Lage sind, die Preiserhöhungen an ihre Kunden weiterzugeben, was zu einem starken Margen- und Gewinneinbruch führt. Dies ist der Hauptgrund, warum wir uns seit dem Frühjahr 2023 stark auf die Aktienselektion und weniger auf die taktische Vermögensallokation konzentrieren.

Die Anleger erwarten nun, dass wir uns bald wieder in einem disinflationären Umfeld befinden. Die zweijährigen Inflationserwartungen liegen sowohl in den USA als auch in der Eurozone zwischen 2 und 2.5 Prozent. Disinflation ist keine Neuheit. In der Vergangenheit wurden disinflationäre Phasen allerdings von solidem Gewinnwachstum begleitet. Diesmal könnte es anders sein, da das reale BIP-Wachstum nahe Null liegt. Daher wird das nominale Wachstum und damit auch das Umsatzwachstum der Unternehmen bei sinkender Inflation unter Druck geraten. Das erwartete disinflationäre Umfeld könnte zumindest kurzfristig einen gewissen Gegenwind darstellen, und die Wahrscheinlichkeit eines weiterhin schwachen Gewinnwachstums hat zugenommen. Für eine Gewinnrezession reicht dieses Szenario jedoch nicht aus.

Multinationale S&P-500-Unternehmen

Nebst dem möglichen disinflationären Gegenwind dürfte die Wechselkursentwicklung einigen US-Unternehmen erheblichen Rückenwind verleihen. Vor allem multinationale Konzerne mit hohen Umsätzen in Fremdwährungen werden in der zweiten Jahreshälfte vom schwachen US-Dollar profitieren. Seit dem dritten und vierten Quartal 2022 wertete der Greenback um satte 7 Prozent ab. Stockpicking bleibt weiterhin gefragt.

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