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Lang, langsam, luxuriös: Unser Autor reiste mit dem altehrwürdigen The Canadian durch Kanada.
Annullierte Flüge. Verlorenes Gepäck. Endlose Schlangen am Check-in und Covid-Tests. Flugreisen sind selbst für routinierte Reisende zur Geduldsprobe geworden. So beschloss ich, den Zug zu nehmen. Einen langsamen. Einen langen. Für eine Reise, die den Glanz und die Romantik einer vergangenen Epoche einfängt. Ich kaufte mir ein Ticket für "The Canadian" – und eine Reise über 4'500 Kilometer von Toronto nach Vancouver.
Wobei der nüchterne Name täuscht. Der Canadian ist ein legendärer Prestigereisezug – wie der Venice-Simplon-Orient-Express, der Trans-Siberian-Express und der Maharaja-Express in Indien. Also eine unbedingte Empfehlung für Ihre Bucket List! In vier Tagen und vier Nächten durchquert der Canadian vier Zeitzonen und bietet Ihnen das einmalige Erlebnis einer Luxusreise durch einige der spektakulärsten Landschaften der Welt.
Kaum jemand hat den Reiz einer Bahnreise so gut beschrieben wie der Schriftsteller Paul Theroux: "Es gibt nichts, was es auf einer Bahnreise nicht gibt: exzellente Speisen, Ausflüge an die Bar, Kartenspiele, Intrigen, erholsame Nächte und in fremden Sprachen geführte Monologe, die an russische Erzählungen erinnern." Kein Wunder, dass Reisezüge Filmklassiker inspiriert haben – wie Agatha Christies "Mord im Orient-Express", Ian Flemings "Liebesgrüsse aus Moska"u und Alfred Hitchcocks "Der Fremde im Zug".
Ich beschloss, meine Reise im Herbst anzutreten, wenn der Indian Summer das Laub in einem wahren Farbrausch von Purpur, Orange und Gelb leuchten lässt. Für Indian Summer Fans sind die Laubbäume Ontarios ein Traum, vor allem, wenn man sie durch die riesigen Fenster eines Panoramawagens betrachten kann. Unglaublich, wie viel mehr man in einem Aussichtswagen von der Landschaft sieht als in einem herkömmlichen Abteil! Der Herbst ist auch die beste Jahreszeit für eine Fahrt durch die majestätischen Rocky Mountains in British Columbia, denn dann wimmelt es in den Flüssen nur so von Fischen, die flussaufwärts schwimmen.
Unsere Reise begann an einem sonnigen Sonntagmorgen Ende Oktober im Hauptbahnhof von Toronto, der jüngst renovierten Union Station im Stil des Historismus, die mit einem Tonnengewölbe, ihrer Kassettendecke und Lichtgaden beeindruckt. Mein Gepäck war in knapp einer Minute eingecheckt (der Schalter ist nur 30 Schritte von der Mietwagen-Rückgabe entfernt), sodass ich gleich die gastliche VIP-Lounge aufsuchte und mir dort heimlich ein paar Äpfel und Muffins einsteckte – aus alter Gewohnheit, nach jahrelanger leidvoller Erfahrung mit abscheulichen Airline-Snacks.
Wäre nicht nötig gewesen. Wie sich herausstellte, war diese Reise eine schier endlose Abfolge von Gaumenfreuden. Wir hatten gerade den Bahnhof verlassen, als die Stewards bereits kleine Köstlichkeiten wie Cracker mit Lachs-Mousse, Hummus und Gänseleber reichten, dazu Champagner und Mimosas zum Nachspülen.
Kaum hatte ich mich von den Krümeln befreit und den Weg in den Panoramawagen für einen atemberaubenden Blick auf die herbstlich gefärbten Wälder gefunden, da wurden wir schon zum Lunch gebeten.
Im Speisewagen erwarteten uns weisse Tischtücher, edles Porzellan, Vasen mit frischen Blumen und elegant gekleidetes Servicepersonal, von dem so manche, wie ich später erfuhr, in den besten Hotels Kanadas gearbeitet hatten. Die täglich wechselnde Speisekarte bot immer eine Auswahl von vier verschiedenen Vorspeisen, dazu vegane Gerichte, Dorsch, Lachs und Forellen aus Kanada, Alberta Sirloin Steak und Lammkarree.
Damit alle Tische gleichmässig besetzt waren, wurden die Gäste platziert, und so fand ich mich in Gesellschaft von drei mir absolut unbekannten Mitreisenden wieder. Aber Züge haben etwas, das die Menschen zum Reden bringt. So wusste ich am Ende des Mittagessens mehr über meine Tischbegleiter als ich jemals auf einem 16-stündigen Transpazifik-Flug über meine Sitznachbarn erfahren hatte.
Obwohl es im Zug weder ein W-LAN noch eine konstante Mobilfunkverbindung gab, haben wir uns bestens unterhalten. Lokale Winzer und Bierbrauer boten Verkostungen an, es gab Vorträge über Geographie und Ratequiz. Im Spieleabteil traf man sich zu Karten- und Brettspielen, zum Puzzeln oder zum unverwüstlichen Dauerbrenner Bingo. Wenn man nicht einfach aus dem Fenster schaute, um den stetig wechselnden Ausblick zu geniessen.
Die Reise bot auch Gelegenheit, sich in der altehrwürdigen Kunst der Konversation zu üben. Ich traf einen jovialen Hünen aus Edmonton, der sich mir als "Bauernpoet" vorstellte, und eine Witwe in den Siebzigern, die nach einer dreimonatigen Radtour durch den kanadischen Osten nun mit Faltvelo und Zelt zurück nach Vancouver reiste. Dann waren da noch ein grüblerischer Teenager aus Deutschland, der hier sein Brückenjahr verbrachte, und eine in Ghana geborene geschiedene Dame aus Toronto auf dem Weg zu ihrem Sohn, der in British Columbia studierte. Ein Ehepaar machte diese Reise 40Jahre nach dem gemeinsamen Studium in Boston, wo der Ehemann seiner späteren Frau diese Reise vorgeschlagen hatte, nur um mit ihr ins Gespräch zu kommen. Ausserdem an Bord: Ein mexikanischer Marathonläufer, der gerade von einem Rennen in Toronto kam und auf dem Weg zum nächsten Lauf in Vancouver war.
"Wildnis" beschreibt den Norden Ontarios nicht einmal annähernd. Über Stunden sieht man nichts als Bäume und Seen und spektakuläre, urzeitliche Felsformationen. Die mehr als 250'000 Seen dieser Provinz fassen etwa ein Fünftel der weltweiten Süsswasservorräte, und die borealen Wälder bilden eine der grössten Kohlenstoffsenken des Planeten.
Obwohl ich mein Ticket zwei Monate im Voraus gebucht hatte, war nur noch eine obere Schlafkoje auf der Gangseite frei. Ich fühlte mich sofort an die urkomische Schlafwagenszene in Billy Wilders unvergesslicher Filmkomödie von 1959 "Manche mögen’s heiss" erinnert, in der Tony Curtis und Jack Lemmon (beide in Frauenkleidern) eine wilde Party mit Marilyn Monroe feiern.
Unsere Klappbetten wurden jeden Abend, während wir unser Abendessen einnahmen, frisch bezogen und am nächsten Morgen wieder verstaut, wenn wir beim Frühstück sassen. Meine gemütliche Koje war breiter als übliche europäische Liegewagenplätze. Ihr schwerer Vorhang schirmte sowohl neugierige Blicke als auch Geräusche ab. Ich schlief wie ein Baby.
Entlang der Route legte der Zug mehrmals einige Stunden Pause ein. So konnten wir uns die Beine vertreten und die Sehenswürdigkeiten erkunden. In Winnipeg, Manitoba, traf ich einen Freund zum Abendessen im wunderschön renovierten Fort Garry Hotel, das nur ein paar Schritte vom Bahnhof entfernt liegt. Es ist eines der Grand Hotels, die vor mehr als einem Jahrhundert entlang der Bahnstrecke gebaut wurden, um den Reisenden Gelegenheit zu einem Kurzaufenthalt zu geben.
Unser längster Stopp war ein fünfstündiger Aufenthalt in Edmonton, Alberta, am dritten Abend, nach einer Fahrt durch die endlosen Prärien von Manitoba und Saskatchewan. Eine Mitreisende, die die Koje unter meiner gebucht hatte, wollte eigentlich ein Hockeyspiel der Edmonton Oilers besuchen. Leider kamen wir zu spät an, weil unser Zug zu vielen Güterzügen den Vortritt lassen musste.
Am Morgen des vierten Reisetages liefen wir in Jasper ein, einem bezaubernden Ort, etwa 80 Kilometer entfernt vom Mount Robson, dem mit 3954 Metern höchsten Berg der kanadischen Rockies. Als ich durch die Strassen schlenderte, fielen mir die vielen runden Kügelchen auf, die dort überall lagen. Ich fragte einen Einheimischen, der mir dann erklärte, dass es sich um Elchkot handelte (den jedes der fleissigen Tiere hier durchschnittlich 13 Mal pro Tag hinterlässt). Die Elche laufen überall in der Stadt frei herum. Da sie bis zu 500 Kilo wiegen können, macht man besser einen grossen Bogen um sie – vor allem in der Brunftzeit, wenn die geweihtragenden Bullen sehr aggressiv werden können.
Beim letzten planmässigen Halt in Kamloops, British Columbia, wo wir bei Sonnenuntergang eintrafen, trübte sich die Stimmung. Erst wenige Monate zuvor war hier in der Nähe ein Massengrab mit den Überresten Hunderter Kinder entdeckt worden, die in den katholischen "Residential Schools" zu Tode kamen. Im Rahmen einer grausamen Assimilierungspolitik waren indigene Kinder gewaltsam von ihren Familien getrennt und oft Hunderte Kilometer von zu Hause entfernt untergebracht worden.
Sir John A. Macdonald, Kanadas erster Premierminister, wurde 1867 gewählt, weil er versprach, eine transnationale Bahnlinie vom Atlantik bis zum Pazifik zu bauen. Bis zu ihrer Fertigstellung vergingen 18 Jahre. Mindestens 4'000 der 17'000 chinesischen Arbeiter, die man für den Bau ins Land geholt hatte, starben und Zehntausende Ureinwohner wurden umgesiedelt.
Als unser Zug nach 96 Stunden um sechs Uhr morgens in Vancouver einlief, blieben die meisten Reisenden noch für ein letztes Frühstück an Bord. Nach dem unabwendbaren Ausstieg stand ich mit meinen Mitreisenden noch eine Weile auf dem Bahnsteig, um das gemeinsame Erlebnis so lange wie möglich auszukosten.
Zwischen Selfies und Umarmungen gelobten wir, über Social Media in Kontakt zu bleiben. Mein Cousin, der mich am Bahnhof abholte, scherzte, wir erinnerten ihn an seine Kinder, wenn er sie vom Sommerlager abhole. Ich wusste genau, was er meinte.