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Weg mit dem Checklisten-Tourismus und der manischen Jagd nach dem ultimativ Instagram-baren: Langsames Reisen ist echtes Reisen. Eine Kunst, die wiederentdeckt werden will.
Abschalten und entspannen? Das ist eines der vielen Dinge, in denen ich nicht besonders gut bin.
Selten bin ich mehr als ein paar Zentimeter von einem Gerät oder Screen entfernt. Dennoch gibt es einen Ort, der mich unerreichbar macht. Einen Ort, an dem ich der digitalen Ablenkung entkomme: auf meinem Fahrrad.
Auf dem Fahrrad habe ich keine andere Wahl, als den Blick nach vorne zu richten und alles aufzunehmen, was mir begegnet. Sei es ein grünes Stück englischer Landschaft oder ein schwindelerregender Alpenpass. Ohne Ablenkung sind meine Sinne offen für Anblicke, Eindrücke, Geräusche und Gerüche: gemähtes Gras, Mohnfelder, der knisternde wilde Rosmarin, an dem ich kürzlich an einem heissen Sommertag ausserhalb der spanischen Stadt Girona vorbeikam.
Darüber hinaus erlaubt die Verlässlichkeit von glattem Asphalt oder einem sanften Feldweg meinem Geist, neue oder vernachlässigte Wege zu erkunden – oder gar einfach zu verharren. Es gibt Momente auf dem Fahrrad, in denen ich mich an die vorangegangenen Kilometer nicht mehr erinnern kann. Die Zeit vergeht fast unbemerkt in einem verschwommenen Rhythmus.
Das Fahrrad ist wohl das beste Transportmittel für das, was als "langsames Reisen" bekannt geworden ist. Die Erfüllung, Emotionen, Beziehungen und Kulturen ebenso zu erkunden wie eine Route oder ein Ziel. Weg mit dem Checklisten-Tourismus und der manischen Jagd nach dem ultimativ Instagramm-baren. Her mit dem unbegangenen Weg, in einem Tempo, das eine aufmerksame Auseinandersetzung mit Menschen und Orten, mit Sinnen und Gedanken ermöglicht.
Die Popularität des langsamen Reisens ist vielleicht eines der wenigen positiven Vermächtnisse der Coronavirus-Pandemie. Die Einschränkungen in der Luftfahrt zwangen uns alle dazu, zu überdenken, was Reisen für uns bedeutet. Mangels Alternative konzentrierten wir uns auf das Lokale, das Bedeutsame und das Langsame. Menschenmengen wurden nicht nur zu einem klaustrophobischen Fleck auf der Landkarte der Bucket-Lister, sondern zu einer existenziellen Bedrohung.
Backpacking, Bikepacking, Trekking, Freiwasserschwimmen, Segeln, Skitouren – die Nachfrage nach Reisen und Erkundungen, die Raum für Gedanken und Verbindungen lassen, vom Banalen bis zum Tiefgründigen, ist stark gestiegen.
Auch Züge sind zu Vertretern des langsamen Reisens geworden, so wie sie es vor dem Zeitalter der Billigflieger waren. Flugzeuge sind trotz ihrer glorreichen Bequemlichkeit vorübergehende menschliche Lagerlösungen. Sie nehmen uns das Gefühl für Ort und Zeit, sie verletzen unsere grundlegendsten sozialen Instinkte, sie machen das Reisen allzu oft zu einem seelenlosen Ausdauertest. Züge hingegen lenken den Blick nach draussen und – in viel stärkerem Mass – auf andere Menschen. Ich habe auf einer einzigen Zugfahrt mehr Gespräche mit Fremden geführt als in einem ganzen Leben in den Wolken.
Beim langsamen Reisen geht es nicht nur darum, irgendwohin zu gelangen, sondern auch darum, das Reiseziel wahrhaft zu entdecken. Man schlendert ziellos durch die Strassen einer Stadt, verweilt auf Plätzen und in Bars und sucht die Gesellschaft von Einheimischen. Als ich Anfang des Jahres in den kaukasischen Bergen Georgiens unterwegs war, ging ich in ein Café in einer kleinen Stadt mit der einfachen Absicht, einen Kaffee zu kaufen. Eine halbe Stunde später verliess ich es wieder. Das spontane Gespräch mit der Besitzerin und ihrer Freundin – so ehrlich, wie es nur Fremde führen können – gab mir einen Kick, der das Koffein, das ich konsumiert hatte, lange überdauerte.
Ich behaupte, dass das Fahrrad das grösste Totem für langsames Reisen ist – mit einer optimalen Geschwindigkeit, die ein Gefühl von Abenteuer bietet, während der Fahrer alles vom Reichtum seiner Umgebung mitbekommt. Auf dem Fahrrad habe ich Dinge gesehen, die bei der Geschwindigkeit und Enge eines motorisierten Fahrzeugs nur verschwommen wären. Ich habe Freundschaften auf der ganzen Welt geschlossen, von solchen, die nun schon Jahrzehnte andauern, bis hin zu anderen, die nur eine einzige Fahrt gedauert haben. Auf dem Fahrrad habe ich Lebensentscheidungen getroffen, Passagen in meinem Kopf geschrieben und über emotionale Probleme nachgedacht. Ich habe mir einen Raum bewahrt, in dem ich abschalten kann.
Vor allem aber lernte und verfeinerte ich die Kunst des langsamen Reisens.