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Market View & Insights
In der derzeit angespannten weltwirtschaftlichen Lage hat der Begriff der Stagflation Konjunktur - doch was verbirgt sich dahinter?
Vor 40 Jahren würgte der US-Notenbankchef Paul Volcker die Inflation mit radikalen und schmerzhaften Zinserhöhungen ab. Es war ein Ende mit Schrecken, um das Schrecken ohne Ende zu vermeiden. Stehen wir heute vor einem ähnlichen Szenario?
«Wir haben eindeutig eine Stagflation». Mit dieser Einschätzung anlässlich eines Kongresses bezog Professor Hans-Werner Sinn Anfang April 2022 Position. Die aktuell hohe Inflation sei noch nicht das Ende der Fahnenstange und die Wirtschaft befinde sich infolge von Angebotsschocks in der Klemme.
Das, obwohl viele westliche Volkswirtschaften nach Corona zunächst ein hohes Wachstum aufwiesen: Für US-Unternehmen war 2021 das profitabelste Jahr seit 1950. Es gab riesige Konjunkturpakete, volle Auftragsbücher und einen boomenden Arbeitsmarkt. Die gleichzeitig zunehmenden Preissteigerungen wurden hingegen als vorübergehend betrachtet. Doch inzwischen hat der Wind spürbar gedreht.
Der Begriff der Stagflation ist eine Wortkombination aus Stagnation und Inflation. Sie beschreibt eine Situation, in der drei Trends zusammenkommen:
Erstmals verwendet wurde der Begriff im Jahr 1965 vom britischen Politiker Iain Macleod in einer Rede vor dem Parlament. Damals herrschten gleichzeitig eine hohe Inflation und hohe Arbeitslosigkeit: «Wir haben jetzt das Schlimmste von beiden Welten – nicht nur Inflation oder Stagnation, sondern beides zusammen. Wir haben eine Art 'Stagflation'».
Dieses Szenario hat dramatische Folgen für weite Teile der Wirtschaft und lässt sich nicht ohne schmerzhafte Anpassungen beenden. Das Dilemma: Massnahmen zur Senkung der Inflation, zum Beispiel Zinserhöhungen können das Wachstum zunächst weiter belasten und die Arbeitslosigkeit verschlimmern. Wenn Unternehmen etwa aufgrund von Lieferengpässen nicht die erforderlichen Mittel bekommen, kann zudem die Produktion sinken, obwohl Nachfrage vorhanden ist und die Auftragsbücher voll sind.
In den 1960er Jahren war die Kombination aus hoher Inflation und hoher Arbeitslosigkeit für viele Ökonomen unvorstellbar. Man ging davon aus, dass eine hohe Arbeitslosigkeit mit niedrigen Preissteigerungen einhergeht – und umgekehrt.
In den 1970ern zeigte sich, dass diese These nicht zutrifft, sobald Arbeitnehmer und Unternehmen mehr Inflation erwarten. Dann entsteht eine Lohn-Preis-Spirale: Die anhaltende Preissteigerung wurden zu dieser Zeit in die Lohnverhandlungen einbezogen und die Löhne – und damit die Kosten der Unternehmen – stiegen schneller und schneller, was die Inflation zusätzlich befeuerte.
Bereits Ende der 1960er Jahre stiegen die Inflationsraten in den USA als Folge expansiver Geldpolitik an. Damit sollte die Lage am Arbeitsmarkt verbessert werden. Gleichzeitig waren die Staatsschulden auch infolge des Vietnamkriegs deutlich gestiegen.
1971 scheiterte zudem das Bretton-Woods-Währungssystem, als die USA die feste Goldpreisbindung aufhoben. Der US-Dollar war nun frei handelbar und wurde immer schwächer. Von 1971 bis 1978 verlor er rund 30 Prozent, was sich preistreibend auf Rohstoffe und Edelmetalle wie zum Beispiel Gold auswirkte.
Zusätzlich wurde dieser Trend durch die damalige Ölkrise angeheizt, nachdem die OPEC ihre Fördermengen im Jahr 1973 aus politischen Gründen reduzierte. Von knapp über 3 Dollar im Jahr 1972 stieg der Preis bis 1975 in der Spitze auf 15 Dollar. Das führte in vielen Industrieländern zu höherer Inflation und schwächerem Wachstum, bis hin zur Rezession. Damit hatte die Stagflation begonnen.
Parallel brachen 1973 und 1974 die Aktienkurse ein. Nach einer Beruhigung folgte 1979 eine zweite Ölkrise, aufgrund von Produktionsausfällen im Rahmen des damaligen Golfkriegs. Das brachte das Fass zum Überlaufen. In den USA erreichte die Inflation nach 1974/75 erneut zweistellige Werte und stieg im März 1980 auf 14,8 Prozent.
Eine Erklärung für das Zusammentreffen von Stagnation und Inflation ist, dass die Wirtschaft mit einem Angebotsschock konfrontiert wird. Das kann bei einem raschen Anstieg des Ölpreises passieren. In der Folge steigen die Preise, die Produktion wird teurer und weniger rentabel – und letztlich verlangsamt sich das Wirtschaftswachstum. Diesen Zusammenhang belegte zur Jahrtausendwende eine Studie zur Stagflation der 1970er Jahre.
Stagflation ist auch abseits von Angebotsschocks möglich: Die andauernden Preiserhöhungen von Industriegütern noch vor dem Ölpreisanstieg von 1973/74 waren laut Studien weitgehend Resultat der damaligen Geldpolitik. Insofern wird der starke Anstieg des Ölpreises in den 1970er Jahren heute nicht als Ursache sondern als Brandbeschleuniger der Stagflation gesehen.
Lange wurde die Bedeutung der Geldpolitik zur Inflationsbekämpfung unterschätzt. Das änderte sich spätestens August 1979, als Paul Volcker zum neuen Chef der US-Notenbank ernannt wurde. Er griff zu radikalen Massnahmen und erhöhte die Zinsen auf bis zu 20 Prozent. Damit bekam er die Inflation innerhalb von zwei Jahren in den Griff.
Doch die Zinserhöhungen waren auch sehr schmerzhaft: Die US-Wirtschaft rutschte in eine Rezession. Die Arbeitslosigkeit stieg an. Kurzfristig wurde es also schlimmer, bevor eine Verbesserung stattfand. Der US-Dollar wurde in der Folge für einige Jahre sehr stark und die Rohstoffpreise fielen (endlich).
Das unerwartet radikale Vorgehen hatte auch für andere Länder negative Folgen. Sie wird als Mitursache für die sogenannte «verlorenen Dekade» in Lateinamerika genannt. In den USA war die Anpassung im Jahr 1983 überwunden und die Wachstumsraten legten wieder zu. Bereits im Herbst 1982 war der Aktienmarkt wieder gestiegen – und dieser Aufschwung sollte ganze 18 Jahre anhalten.
Nach vier Jahrzehnten langfristig fallender Inflationsraten waren die Preissteigerungen in den USA im März mit 8,5 Prozent plötzlich wieder so hoch wie zuletzt im Jahr 1981. Und auch in Europa ist der Trend eindeutig, wie die sehr deutlich gestiegenen Erzeugerpreise erkennen lassen.
Professor Sinn zufolge legten sie dort gegenüber dem Vorjahr deutlich zu (Frankreich 22 Prozent, Österreich 24 Prozent, Spanien 36 Prozent, Italien 42 Prozent). Zum Vergleich: Zum Ölpreisschock der 1970er Jahre waren es in Deutschland «nur» 15 Prozent.
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Der Krieg in der Ukraine wird von manchen Experten als ein ähnlicher «Brandbeschleuniger» für inflationäre Tendenzen gesehen wie die erste Ölkrise im Jahr 1973. Dem streitbaren Ökonom Nouriel Roubini zufolge entstand das aktuelle Stagflationsumfeld bereits während der Pandemie. Neben den Unterbrechungen der globalen Lieferketten wegen Corona erlitt die Weltwirtschaft mit dem Krieg in der Ukraine nun einen zweiten negativen Schock auf der Angebotsseite, was die Lage weiter verschärft.
Ein knappes Angebot und hohe Rohstoffpreise treffen auf die Auswirkungen einer freigiebigen Geld- und Fiskalpolitik – wie auch auf eine schwächere Wirtschaft. Die Zentralbanken stehen damit wieder vor dem Dilemma wie Paul Volcker: Sie sollten die Geldpolitik schnell normalisieren, um die Inflationserwartungen zu verankern und Lohn-Preis-Spiralen zu verhindern. Aber sie können womöglich kaum radikal genug vorgehen, ohne eine schwere Rezession und einen Crash an den Finanzmärkten auszulösen. Es bleibt abzuwarten, wie sich das Szenario diesmal entwickelt.