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Lifestyle

Burn-on statt Burn-out: Wenn Arbeit berauscht

Ständig unter Spannung, ständig im Stress: In die Psychosomatische Klinik von Bert te Wildt kommen Menschen, deren Leben sich nur noch wie Arbeit anfühlt. Sie funktionieren aber weiter - und leiden an einer neuartigen Form der chronischen Erschöpfungsdepression, die er Burn-on nennt. Im Interview erzählt der Chefarzt, warum es viele Menschen kaum aushalten, zur Ruhe zu kommen.

Datum
Autor
Michael Neubauer, Gastautor
Lesezeit
5 Minuten

Ein Mann mittleren Alters mit Glatze und grauem Bart sitzt in einem Sessel vor einer hellen Wand mit einem Bücherregal.
"Burn-on" nennt der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie eine neue Form der durch zu viel Arbeit bedingten chronischen Erschöpfungsdepression. In seiner Klinik ist er immer häufiger mit diesem Phänomen konfrontiert. © Stephan Sahm

Herr te Wildt, Sie verbringen jedes Jahr eine Woche in einem Kloster. Warum?

Ich geniesse den Rückzug aus der geschäftigen Welt an einen ruhigen, fürsorglichen Ort. Ich mag es, intensiv zu arbeiten, ich habe in den vergangenen Jahren die Klinik am Ammersee mit aufgebaut. Aber es geht darum, die Balance zu finden zwischen Arbeits- und Privatleben. Diese Zeitinsel im Kloster ermöglicht es mir, innerlich zur Ruhe zu kommen.

In Ihrer Klinik erleben Sie Menschen, die keine Pause mehr machen von der Arbeit. Und die, wie Sie sagen, im Laufe der Jahrzehnte "unbemerkt verglüht" sind. Was ist da genau passiert?

Wir behandeln viele Patientinnen und Patienten, die mit arbeitsbezogenen Störungen zu uns kommen. Die typische Erkrankung ist der Burn-out: Menschen erleiden einen Zusammenbruch wegen einer akuten Erschöpfungs-depression. Wir beobachten aber zunehmend ein anderes Phänomen, das wir als Burn-on bezeichnen: Menschen kommen zu uns nach jahre- oder jahrzehntelanger chronischer Überarbeitung, Erschöpfung und auch Depressivität. Sie verstecken ihr Leiden hinter einem Lächeln, beissen die Zähne zusammen. Oft sind gerade sie besonders diszipliniert.

Burn-on bricht nicht mit dem Knall eines Burn-outs durch. Das Leiden wird hinter einem Lächeln versteckt.

Was meinen Sie damit?

Die Menschen wissen, dass es so etwas wie den Burn-out gibt. Aber sie halten sich trotz krankhafter Erschöpfung mit kleinen Justierungen im Berufs- und Alltagsleben oberflächlich bei Laune, machen besonders tüchtig weiter. Bei der Aufnahme in unsere Klinik sagen sie: "Es geht mir gut, ich bin nicht depressiv, ich liebe mein Leben und meinen Job, ich habe bis gestern Abend noch gearbeitet. Jetzt bin ich hier, um schnell wieder fit und funktionsfähig zu werden." Zehn Minuten später erzählen sie dann aber, dass sie manchmal lebensmüde Gedanken haben.

Was ist der Unterschied zum Burn-out? 

Die Depressivität beim Burn-on ist sehr versteckt. Die krankhafte Erschöpfung bricht nicht mit dem Knall eines Burn-outs durch. Die Menschen sind mit ihrer Arbeitsleistung permanent am Limit, sie wollen funktionieren.

Wie sieht deren Leben aus?

Es ist purer Stress. Sie sind einerseits hyperaktiv, andererseits erleben sie Lähmungserscheinungen und ein Taubheitsgefühl für die eigenen Warnsignale des Körpers und der Seele. Die Menschen haben verlernt, einen Draht zu ihren Gefühlen wie Traurigkeit, Angst oder Wut zu haben. 

Ein langgezogener Gang mit hellbraunen und -grauen Fliesen und gewölbten Deckenelementen
Anders als bei einem Burn-out, bei dem Menschen einen Zusammenbruch erleiden, verstecken Burn-on-Patientinnen und -Patienten ihr Leiden hinter einem Lächeln, sagt Professor Bert te Wildt. © Stephan Sahm

Welche Symptome sind typisch für einen Burn-on? 

Die Betroffenen sind sehr angespannt, denn die Anspannung hält sie davon ab, zu implodieren, in sich zusammenzufallen. Sie legt sich häufig auf den Körper: Verspannungen in Muskeln, Schultergürtel, Hals und Nacken führen oft zu Kopfschmerzen. Es kommt manchmal zu Verschiebungen von Wirbelkörpern und zu Bandscheibenvorfällen. Manche haben einen sehr hohen Blutdruck. Viele Symptome betreffen den Kopf, Tinnitus etwa oder alles, was mit dem Kiefergelenk zusammenhängt, etwa Zähneknirschen. In der Klinik wird ihnen die innere Leere bewusst, sie empfinden eine tiefe Niedergestimmtheit, Antriebs- und Interesselosigkeit. Häufig haben sie Schuld- und Schamgefühle, Konzentrations- und Schlafprobleme.

Sie sagen, viele Menschen mit einem Burn-on gehen missbräuchlich mit ihrer Arbeit um.

Der Workaholism, also die Arbeitssucht, ist ein typischer Weg in den Burn-on, weil diese Menschen das Rauschhafte, Positive der Arbeit spüren, was sie sehr lange trägt. Aber diese Sucht verdeckt auch, dass sie an vielen anderen Stellen das Geniessen verlernt haben. Ihr Arbeitsmodus ist in alle Lebensbereiche hineindiffundiert. Das Leben ist quasi Arbeit, man denkt stets ergebnisorientiert, effizient, arbeitet ständig To-do-Listen ab - die Menschen fragen sich nicht mehr, ob sie Dinge in ihrer Freizeit noch gerne tun. Einladungen im Freundeskreis und bei der Familie werden zur lästigen Pflicht und abgearbeitet. Da ist kein Verweilen im Hier und Jetzt, keine Ruhe und Besinnung.

Warum berauscht uns Arbeit?

Arbeit ist etwas Tolles, und die Leidenschaft dafür auch. Sie spricht unser Belohnungssystem an. Bei Alkohol und Kokain ist klar, wie das passiert; bei Sex- und Sportsucht sind Endorphine wie Adrenalin von Bedeutung. Beim Thema Arbeit und Geldverdienen ist es abstrakter, denn es gibt viele Formen von Arbeit, körperliche oder eher kognitive. Doch Arbeit verschafft uns Belohnungsreize: Geld, Lob und Anerkennung spielen eine grosse Rolle, aber auch in Zahlen messbare Reize. Ich finde es auch schön, wenn in meiner Klinik die Zahl der Mitarbeitenden wächst - oder wenn das Gehalt steigt. 

Welche gesellschaftlichen Schichten, welche Berufe betrifft Burn-on besonders?

Seitliche Klostergebäude und eine Klosterkirche im Hintergrund umschliessen einen Innenhof.
Früher Kloster, heute Klinik: Nach Diessen kommen ruhelose, erfolgreiche Menschen, die innehalten und sich fragen: "Warum mache ich das eigentlich?" © Stephan Sahm

Menschen, die sehr viel Personalverantwortung haben. Oder die sich in ihrem Beruf stark um andere Menschen kümmern: Pädagoginnen, Ärztinnen, Psychotherapeuten. Vor allem aber Menschen in der Wirtschaft: Managerinnen und Manager, die zehn Jahre lang ein Start-up aufgezogen haben, die viel erreicht haben und sich plötzlich fragen: "Warum mache ich das eigentlich?" Die sich sagen: "Ich bin total erfolgreich, aber geniesse mein Leben nicht, ich weiss nicht, wie ich da rauskommen soll, ich habe an meinem Leben vorbeigelebt." Oder auch viele Familienunternehmer, bei denen die Entgrenzung der Arbeit ein grosses Problem ist.

Und deren Privatleben stark darunter leidet?

Menschen im Top-Management haben bei der Arbeit oft das Gefühl, nie zu genügen - obwohl sie ganz viel schaffen. Im Privaten geht das dann weiter: Ich bin nicht genug für meine Lieben zu Hause, habe zu wenig Zeit für meine Kinder und Freunde. Sie werden geplagt von einem permanenten schlechten Gewissen. Und: Sie räumen sich selbst kaum mehr Zeit ein, erlauben sich keinen halben Tag oder keinen Abend für sich allein - weil sie ein grosses Verantwortungsbewusstsein haben.

Die Psychosomatische Klinik Kloster Diessen befindet sich in einem ehemaligen Frauenkloster. Sie wurde vor sechs Jahren gegründet, inzwischen gibt es 135 Mitarbeitende und Platz für rund 90 Patientinnen und Patienten - darunter Managerinnen, Unternehmensberater, Schauspieler, Ärztinnen. 

Das hört sich stark nach persönlichem Versagen an. Inwieweit haben aber auch die Strukturen in der Arbeitswelt Schuld an diesen Erschöpfungsdepressionen?

Vieles kann zu dieser chronischen Erschöpfung beitragen: die permanente Erreichbarkeit durch Apps und Smartphones; die Möglichkeit, von jedem Ort zu jeder Zeit arbeiten zu können. Vielerorts wird ständig mehr Arbeit auf weniger Köpfe verteilt, es gibt Konferenz-Marathons und strenge Deadlines. Gleichzeitig erhöht sich der Druck, weil wir zur Konkurrenz erzogen, werden: Mit Entsetzen beobachte ich die Vielzahl von Casting- und Realityshows, in denen junge Menschen gegeneinander antreten. Da kann nur eine Person gewinnen, der oder die Stärkere überlebt. Diese Lust an der Konkurrenz findet sich auch in den sozialen Medien und bei Computerspielen wie Fortnite - und letztlich auch im Arbeitsleben. Das fördert eine Ellbogenmentalität und führt dazu, dass Menschen im Job permanent an ihre Grenzen gehen oder andere übertreffen müssen. 

Gleichzeitig hat eine junge Generation eine neue Einstellung zur Arbeit, spricht von Work-Life-Balance. Ist das nicht ein Widerspruch?

Ja. Es gibt nun eine Gegenbewegung, die uns vor Augen führt, dass sich etwas ändern muss. Ich halte es für möglich, dass Erschöpfungskrankheiten wie Burn-out weniger werden, wenn die Generation Z nachrückt. Aber auch diese Generation ist divers, es gibt viele junge Menschen, die extrem ehrgeizig sind, die ein hohes Einkommen, Status, Luxus wollen. Mit dem Begriff Work-Life-Balance kann ich übrigens gar nichts anfangen. 

Fragen Sie sich: Welche Werte sollen Sie in Ihrem Leben begleiten und ein Kompass für ein gutes Leben sein?

Was stört Sie daran?

Weil man so tut, als bestünde das eigentliche Leben nur aus Privatem und der Freizeit - und die Arbeit gehöre nicht dazu. Das Ausmass der Erschöpfung und die Entfremdung von Arbeitsprozessen scheinen längst dazu geführt zu haben, dass wir unser Arbeiten nicht mehr als Lebenszeit sehen. Das finde ich gefährlich: Man sollte wieder Freude an der Arbeit entwickeln und sie für sich und andere wertvoll gestalten. 

Viele kennen das Gefühl, wenn Arbeit schlaflos, unglücklich oder krank macht. Aber wie fühlt es sich an, wenn Arbeit guttut?

Man empfindet Momente der Verbundenheit. Heisst: Man fühlt sich verbunden mit dem, was man tut; mit den Menschen, mit denen man es tut; und mit den Menschen, für die man es tut. Egal ob bei einem Unternehmer, einer Künstlerin oder einem Kassierer. Man erhält für seine Arbeit eine Gratifikation und empfindet eine Sinnhaftigkeit. Ich weiss: Wenn ich ein bestimmtes Ziel erreicht habe, habe ich es gut gemacht. In der Psychologie spricht man vom "Moment of now", von einem Gefühl, im Hier und Jetzt zu sein, mit allem eins zu sein. Manche sprechen lieber vom Flow; dieser Zustand entsteht, wenn man etwa zwei Stunden lang intensiv an etwas gearbeitet hat und ganz darin aufgeht. 

Was kann man im Arbeitsalltag tun, um nicht in die Erschöpfungsfalle zu geraten?

Fragen Sie sich, was Ihnen wirklich wichtig ist. Was sind Ihre Werte, Ihre Wertvorstellungen, die Sie in Ihrem Leben begleiten sollen und die ein Kompass sind für ein gutes Leben? Sind es Werte wie Partnerschaft, Karriere, Kinder, Familie, Bildung, Umwelt, Spiritualität, Kultur oder Erholung? Und fragen Sie sich dann: Lebe ich das tatsächlich? Die Antwort kann ein erschreckender Moment sein. 

Eine grosse Wand ist mit bunten chaotischen Farbspritzern bedeckt. Die Farben und Formen wirken unstrukturiert und zufällig.
Im Mittelpunkt der Kunsttherapie an der Klinik Kloster Diessen stehen weniger die Krankheit, sondern vielmehr die gesunden Anteile, die individuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten der Patienten. © Stephan Sahm

Und dann? 

Diese Übung kann helfen, eine Motivation zu entwickeln und sich zu sagen: Ich muss wirklich etwas ändern in meinem Leben. Unsere Patientinnen und Patienten gehen oft nach Hause mit der Frage: Gibt es überhaupt Zeiten, Räume und Situationen, in denen ich eine Verabredung mit mir selbst habe? Die ich selbst gestalten kann, sodass ich mich gut fühle? Vielen Menschen kommt ihr Selbstgefühl, ihre Selbstfürsorge abhanden. Schaffen Sie kleine Reservate für sich, an jedem Tag, an jedem Wochenende - nicht nur in den langen Urlauben. 

Aber viele machen doch schon Yoga und Wellness.

Aber oft so extrem, dass das erneut zum Stress wird. Auch manche unserer Patientinnen und Patienten radeln in ihrer Klinikfreizeit mehrmals um den Ammersee. Oder sie joggen so lang, bis sie Erschöpfungsbrüche bekommen. Sie halten es kaum aus, zur Ruhe zu kommen. Andere versorgen sich permanent medial mit Informationen, tragen ständig Ohrstöpsel oder Kopfhörer, sind ständig in einem Modus des Grundrauschens. Heutzutage muss man richtig üben, der Reizüberflutung etwas entgegenzusetzen. 

Zur Person

Ein Mann mittleren Alters mit Glatze und grauem Bart schaut sitzend in die Kamera.
© Stephan Sahm

Professor Bert te Wildt (55) ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Chefarzt der Psychosomatischen Klinik Kloster Diessen am Ammersee bei München. Zu seinen klinischen und wissenschaftlichen Schwerpunkten gehören Verhaltenssüchte, Internetabhängigkeit und stressbedingte psychischen Erkrankungen. 2021 publizierte er zusammen mit seinem Kollegen Timo Schiele das Buch "Burn On: Immer kurz vorm Burn Out. Das unerkannte Leiden und was dagegen hilft". 

 

Über den Autor

Michael Neubauer ist Redakteur bei der "Badischen Zeitung" in Freiburg im Breisgau.

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