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Finanzwissen

Stephanie Kelton und der "Defizitmythos"

Die US-Wirtschaftswissenschaftlerin gehört zu den führenden Vertreterinnen und Vertretern der Modern Monetary Theory. Die Theorie stellt traditionelle Ansichten zu Staatsverschuldung, Inflation und nahezu allen anderen Aspekten der Geldpolitik infrage. Kelton hat damit einiges Aufsehen erregt - und einige Kritik auf sich gezogen.

Datum
Autor
Wendy Cooper, Gastautorin
Lesezeit
5 Minuten

Nahaufnahme einer sprechenden Frau, im Hintergrund eine Leinwand, die auf eine Veranstaltung hinweist
Mit der Modern Monetary Theory - kurz MMT - hat Kelton von der Stony Brook University in den USA eine Debatte darüber angestossen, wie komplexe moderne Volkswirtschaften am besten gelenkt werden können. © Stephanie Kelton

Anders als Privathaushalte müssen sich Regierungen keine Sorgen über steigende Schulden machen, da sie Geld drucken können, um die Zinsen zu begleichen. Einzig die Inflation setzt den Staatsausgaben Grenzen. Diese soll durch fiskalpolitische Massnahmen kontrolliert werden, die die Ausgabenkapazität des privaten Sektors reduzieren, anstatt durch Geldpolitik und Zinserhöhungen.

Wirklich?

Dies sind die wesentlichen Thesen der Modern Monetary Theory (MMT), eines unorthodoxen wirtschaftswissenschaftlichen Denkmodells, das schon seit einiger Zeit existiert, derzeit aber durch zunehmende wirtschaftliche Ungleichheiten eine Renaissance erfährt. 

Ihr Bestseller und ihre öffentliche Präsenz machen Kelton, Professorin für Wirtschaftswissenschaften und Öffentliche Ordnung an der State University of New York, zur wohl bekanntesten Vertreterin der MMT.

Linksorientierte Ideen und progressive Einstellung

Buchumschlag mit dem Titel "The Deficit Myth" und dem Piktogramm eines Mannes in rot-weiss-blauer Kleidung
Gleich nach Erscheinen 2020 auf der Bestsellerliste: "Der Defizit-Mythos"

Die MMT ist eindeutig eine Idee aus dem linken Spektrum, und Kelton vertritt eine ausgesprochen progressive Haltung. Nach ihrer Tätigkeit als Chefökonomin im Budget Committee des US-Senats für die Demokratische Partei wurde sie leitende Wirtschaftsberaterin für die Präsidentschaftskampagnen 2016 und 2020 von US-Senator Bernie Sanders, einem selbsternannten demokratischen Sozialisten.

In Artikeln in einflussreichen Medien wie der New York Times, der Los Angeles Times und der Financial Times kritisiert sie die wirtschaftliche Orthodoxie und propagiert die MMT als alternativen Ansatz. Zudem ist sie regelmässig im US-Fernsehen und -Radio zu Gast, etwa bei NPR oder der satirischen Nachrichtensendung The Daily Show.

Ihr 2020 veröffentlichtes Buch "The Deficit Myth: Modern Monetary Theory and the Birth of the People's Economy" schaffte es rasch in die Bestsellerliste der New York Times. Laut ihrer Website soll das Buch "Leserinnen und Leser dazu befähigen, sich von den nicht funktionsfähigen Denkweisen und fiktiven Zwängen zu befreien, die unsere Nation bisher eingeschränkt haben".

Kontrovers und anfällig für Vereinfachungen?

Eine digitale Anzeige mit grossen Zahlen leuchtet auf einem Wolkenkratzer in einer Grossstadt.
Zu stark vereinfachend, würde unweigerlich zu Hyperinflation führen, sei "politische Polemik für depressive Zeiten" oder grenze an "Geldfälschung": Die Kritik am MMT ist vielfältig. © Keystone/Markus A. Jegerlehner

Die MMT ist jedoch äusserst umstritten, selbst bei einigen Liberalen oder auch Keynesianerinnen und Keynesianern. Der post-keynesianische Ökonom Thomas Palley etwa ist der Ansicht, dass Vertreterinnen und Vertreter der MMT zu Vereinfachungen neigen und die Risiken der Auswirkungen auf die Politik verharmlosen. 

Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman kritisiert die Anhängerinnen und Anhänger der MMT dafür, die inflationären Auswirkungen von Defiziten in Zeiten des Wirtschaftswachstums zu ignorieren. Diese Kritik findet bei vielen Mainstream-Wirtschaftswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern angesichts der explodierenden Staatsverschuldung - in den USA liegt sie inzwischen bei über 34 Billionen US-Dollar - Zustimmung.

Sie befürchten, dass es zwangsläufig zu einer Hyperinflation kommen muss, wenn Regierungen die Gelddruckmaschine zur Finanzierung ihrer Schulden anwerfen. Verschiedene Ökonominnen und Ökonomen, darunter auch Vertreterinnen und Vertreter der konservativen Österreichischen Schule der Nationalökonomie, gehen so weit, der MMT aufgrund ihrer Vorstellung zur Schuldenfinanzierung "Geldfälschung" zu unterstellen.

Tiefe und weit verzweigte Wurzeln

Historisches s/w Foto eines Mannes in Anzug und Krawatte, Nahaufnahme
Die Wirtschaftstheorien des Briten John Maynard Keynes wurden in jüngerer Zeit von den Marktprinzipien des Neoliberalismus verdrängt. © Keystone/United Archives

Die Wurzeln der MMT sind tief und weitverzweigt. Sie gehen auf Diskussionen um sogenannte Fiat-Währungen zurück - Währungen, die nicht durch Edelmetalle oder andere physische Vermögenswerte gedeckt sind - und reichen bis in die Ära der klassischen Ökonomie. Die Theorie nahm jedoch erst im frühen 20. Jahrhundert Gestalt an; der Begriff MMT tauchte erstmals 2008 auf.

Alles begann 1905, als der deutsche Wirtschaftswissenschaftler Georg Friedrich Knapp die "chartalistische" Geldtheorie begründete, die den Wert des Geldes auf die Tatsache zurückführt, dass es kein Tauschmittel, sondern ein "Geschöpf der Rechtsordnung" sei. Dieses chartalistische Gedankengut beeinflusste John Maynard Keynes wesentlich. Keynes befürwortete Staatsausgaben zur Abfederung von Konjunktureinbrüchen und fand nach 1945 weites Gehör, als zahlreiche Staaten mit dem Wiederaufbau ihrer kriegsversehrten Volkswirtschaften zu kämpfen hatten.

In jüngerer Zeit wurde der Keynesianismus allerdings von den Marktprinzipien des Neoliberalismus verdrängt: Deregulierung, Privatisierung und Austerität. Es überrascht daher nicht, dass die meisten Anhängerinnen und Anhänger der MMT der politischen Linken nahestehen, die die Sparpolitik für die aktuelle Lebenshaltungskostenkrise verantwortlich machen.

Klare und solide Verteidigung

Eine Frau spricht und gestikuliert
Für Kelton ist die Geldpolitik ein "Nebenschauplatz", wenn es um die Erhaltung der Finanzstabilität geht. © Stephanie Kelton

Kelton nutzt ihre akademischen Qualifikationen - sie besitzt postgraduale Abschlüsse der Universität Cambridge im Vereinigten Königreich und der New School for Social Research in New York - um die MMT mit klaren und robusten Argumenten zu erklären und zu verteidigen.

"Natürlich spielen Defizite eine Rolle", erklärt sie, "aber nicht in der Weise, wie wir es gelernt haben zu denken". Zu den "Defizit-Mythen", mit denen ihr Bestseller aufräumen will, gehört auch der Gedanke, dass Defizite zukünftige Generationen belasten. Wenn Defizite dazu verwendet werden, eine gerechtere Wirtschaft aufzubauen, indem das Angebot erhöht wird, können sie ihrer Meinung nach eine langfristig treibende Kraft sein.

Kelton beklagt, dass die US-Regierung durch den Verkauf von Staatsanleihen zur Finanzierung ihres Haushaltsdefizits dafür sorgt, dass die Wohlhabenden von höheren Anleihenrenditen profitieren. Zinsen zu nutzen, um das Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage, das der Inflation zugrunde liegt, zu adressieren, hat nach ihrer Meinung einen ähnlichen Effekt. Ferner vertritt Kelton die Ansicht, dass die Inflation trotz und nicht wegen der Massnahmen der Federal Reserve zurückgegangen ist. Den Grund dafür ortet sie darin, dass die Geldpolitik ein "Nebenschauplatz" ist, wenn es um die Erhaltung der Finanzstabilität geht.

Ein Zugeständnis - und eine Reihe von haushaltspolitischen Vorschlägen

US-Banknoten in der Druckmaschine
Im Vergleich zu Ländern wie den USA, Japan, Kanada und Australien, die ihre eigenen Währungen kontrollieren, sind die Staaten der Eurozone mit der gemeinsamen Währung in Bezug auf die Schuldenfinanzierung im Nachteil. © Adam Perez/NYT/Redux/laif

Kelton räumt ein, dass die Modern Monetary Theory (MMT), wonach Regierungen zur Schuldenfinanzierung Geld drucken können, nur für Länder gilt, die ihre eigenen Währungen kontrollieren, so beispielsweise die USA, Japan, Kanada und Australien.

Die Staaten der Eurozone sind mit der gemeinsamen Währung in einer deutlich ungünstigeren Ausgangsposition, solange die Eurozone nicht, wie Kelton vorschlägt, eine eigentliche Fiskalunion bildet und einen neuen Haushaltsrahmen einführt.

Die Wirtschaftswissenschaftlerin plädiert auch für Investitionen in Beschäftigungsprogramme zur Erhaltung und zum Ausbau von Kompetenzen, um die Bevölkerung vor Vollzeitarbeitslosigkeit zu schützen. Wie sie kürzlich in einem Interview mit der Financial Times erklärte, würden solche Programme ihrer Meinung nach "Konjunktureinbrüche verkürzen, Einkommensunterstützung dort bieten, wo sie benötigt wird, und die Preisstabilität fördern".

In ihrer Zeit als Beraterin von Bernie Sanders empfahl ihm Kelton, ein vom ehemaligen US-Präsident Franklin D. Roosevelt vorgeschlagenes Gesetzespaket zur Sozialreform - die Second Bill of Rights - wiederzubeleben. Das Paket postuliert das Recht auf Arbeit zu einem angemessenen Lohn. Sie nannte dieses Bestreben "das unvollendete Geschäft der Demokratischen Partei".

Selbst wenn die MMT - aus Sicht eines Skeptikers - bloss als "politische Polemik für deprimierte Zeiten" betrachtet wird, ist diese Theorie inzwischen Teil einer laufenden Debatte darüber, wie komplexe moderne Volkswirtschaften am besten gelenkt werden können. Die Zeit wird zeigen, ob sie sich durchsetzen kann.

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