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Market View & Insights
Schneller Erfolg und hoher Profit sind nicht mehr Leitgedanken des zeitgemässen Unternehmertums. Warum Entrepreneurship mehr zu Nachhaltigkeit, Sinn und Glück tendiert, erklärt Dietmar Grichnik, Professor für Entrepreneurship an der Universität St. Gallen (HSG).
Dietmar Grichnik: Niemand wird als Unternehmer geboren, genauso wenig wie als Anwalt oder Priester. Entrepreneur wird man durch Sozialisierung. Die Zutaten für diesen Sozialisierungsprozess sind Kreativität, Experimentierfreudigkeit und Risikoaffinität - also genau das, was Kinder auszeichnet. Das heisst, alle haben diese Fähigkeit, auch wenn sie zuweilen abtrainiert wird.
Für mich ist Entrepreneurship ein Komplex verschiedener Verhaltensmuster zur kreativen, innovativen Problemlösung, mit Anwendungsmöglichkeiten in verschiedenen Kontexten, nicht nur im Business. Dazu stellt man sich drei Leitfragen: Wer bin ich? Was kann ich? Wen kenne ich? Die Antworten zeigen mir meine Stärken und deren Potenzial. Das ist bei jedem einzelnen anders: persönliche Werte und Vorlieben, individuelle Ausbildung und fachliche Stärken, und schliesslich das persönliche Netzwerk, ein Mittel-Kanon aus Kompetenz, Kontakten und Kapital. Das zu erkennen und anzuwenden, kann man lernen.
Zu Beginn formuliere ich ein Problem, das ich lösen möchte. Danach definiere ich einen "Affordable Loss", einen für mich tragbaren Verlust, gemäss Lehre und Forschung messbar in zeitlicher oder finanzieller Hinsicht.
Die eigentlichen Ziele unterrichten wir heute nicht mehr nur als Business-Pläne wie bis in die 1990er Jahre. Vielmehr verfolgen wir einen Start-up-Ansatz, wir konzipieren ein "Minimum Viable Product", dann wird getestet, man lernt, validiert und pivotiert, in einer mittelorientierten Experimentierphase.
Unternehmerische Experimente drehen sich nicht nur um Unternehmensgründung, sondern neben Forschung und Lehre auch um praktischen Wissens-, Informations- und Technologietransfer. Ein Beispiel ist eine jüngere im Journal of Management erschienen Hormonstudie zum Verhalten männlicher Investoren bei Start-ups vor dem Hintergrund, dass es weniger Investitionen in von Frauen gegründete Unternehmen gibt. Anhand von Speichel-Proben und Cortisol- und Testosteronmessungen von über 100 Probanden, die einen von unterschiedlich attraktiven Schauspielerinnen präsentierten Pitch beurteilen mussten, konnten wir nachweisen, dass selbst Investorenprofis auf physische Attraktivität ansprechen und mithin vorurteilsbehaftet sind. Wir leisten Aufklärungsarbeit gegen "Gender Bias".
Es gibt nach wie vor klassische Karrierepfade und planerische Berufsgruppen wie Banker, Wirtschaftsprüfer oder Berater. Aber ich vermittle weniger das klassische planerische Management-Stereotyp. Denn der Wind hat gedreht: Die HSG und gerade die Faculty sind heute unternehmerisch orientiert und eng mit der Wirtschaft verzahnt: Wir agieren selbst als Unternehmer. In Projekten wie unserem Start-up-Navigator und unlängst dem Scale-up-Navigator, arbeiten wir auch eng mit Vertretern aus der Venture-Capital-Branche zusammen. Da bespielen wir seit etwa fünf Jahren insbesondere die Verbindung des Unternehmerischen mit dem Nachhaltigen. Denn unsere Kunden, die Studierenden, fordern das ein.
Nehmen Sie die klassische Metapher des Einhorns. Die funktionierte meist nur im Silicon Valley. Ein Artikel der Harvard Business Review schlug dagegen unlängst "Kamele statt Einhörner" vor. Ein Kamel hat Einhörnern einiges voraus: Es existiert als echtes Lebewesen, ist unglaublich resistent und resilient, und wenn nötig kann es auch sprinten. Das ist zeitgemässer heute, sowohl für Unternehmer als auch für Investoren: Man baut Geschäftsmodelle, die zwar einen Wachstumssprint hinlegen können, aber finanziell dauerhafter und nachhaltiger angelegt sind. Dementsprechend passen wir unseren Unterricht an: Start-up-Slogans wie "Fake it till you make it" haben ausgedient. Besser: "Try it till you make it".
Ich sehe drei Trends mit hoher Bedeutung für Studierende und Gesellschaft: Der Bereich Health/Gesundheit, insbesondere "Digital Interventions", also wie wir mit physischen und digitalen Biomarkern unser gesundheitliches Verhalten, z.B. in punkto Bewegung, Ernährung, und allgemeiner Gesundheit beeinflussen können. Themen wie Langlebigkeit und gesundes Altern gehen uns als Kunden einfach alle an. Das zweite Feld ist General Artificial Intelligence (GAI) und die kommende Konvergenz mit Web 3-Technologien. Auch wenn konkrete Use-Cases im Web3 zur Tokenisierung in vielen Branchen noch fehlen, hat das enormes disruptives Potential. Das dritte Thema ist die erwähnte Nachhaltigkeit durch Technologie. Alle drei Trends sind mit digitaler Technologie bespielbar, d.h. für Entrepreneure schnell skalierbar.
Bei uns an der HSG denke ich an Pascal Bieri und sein Unternehmen Planted, das auf Nachhaltigkeit im Food- und Health-Bereich abzielt. Planted spezialisiert sich auf alternative Proteine. Das Unternehmen wurde am letzten Start-up-Summit an der HSG, mit 6000 Teilnehmern, als Rollenvorbild ausgezeichnet und ist nach erfolgreichem Funding einer hohen Millionensumme für Forschung und Entwicklung mit seinen Produkten bereits bei grossen Schweizer Retailern vertreten. Solch interdisziplinäre High-Tech-Gründungen sind immer verheissungsvolle, vielversprechende Beispiele - genau wie Formo von Raffael Wohlgensinger. Formo arbeitet an einer alternativen Käsepräzisionsfermentierung mit Milchproteinen aus dem Labor - gut für Tiere und Klima. Wohlgensinger macht das aus voller Überzeugung, seit er an der HSG einen Veganer-Club gegründet hat.
Richtig, unsere unternehmerischen Leitfragen. In Formo, zeitweilig das höchstfinanzierte Food-Tech in Europa, sind USD 58 Millionen Funding geflossen - obwohl Wohlgensinger immer noch an der Technologie baut. Aber das Skalierungspotenzial ist astronomisch: Die Technologie, wenn sie denn funktioniert, könnte auf sämtliche Käsesorten der Welt angewendet werden.
Für eine zukunftsgerichtete und dynamische Bank bringt Corporate Venturing mit Start-ups frischen Wind ins Geschäft und in die Kundenschnittstelle. Zum einen klassisch mit finanziellen Beteiligungen durch Vehikel wie dem M&A-Geschäft, direkt aus den Balance-Sheets der Bank oder via Fonds. Vielleicht noch interessanter ist ein Innovationsschub bei Technologie und Talenten, wenn man den frühen Kontakt zu disruptiven Innovatoren pflegt. Schliesslich bewirkt die Zusammenarbeit mit Entrepreneuren, etwa in einem "Innovation Lab ", eine Veränderung der eigenen Unternehmenskultur.
Hinter der Zusammenführung von aufstrebender Entrepreneurship und etabliertem Banking steht ein Paradox zweier Welten: Die Start-ups wollen sich so schnell als möglich etablieren, die etablierten Unternehmen wieder wie Start-ups sein. Eine grosse Chance für eine Bank besteht dabei darin, dass man in der Kooperation die besten unternehmerischen Talente aus den Reihen von Jungunternehmern und Studierenden gewinnt. Banken sind mittlerweile nicht mehr die gefragtesten Arbeitgeber der Schweiz. Im "War for Talents" muss man attraktive Berufsbilder anbieten können. Denn die Gen Z will wissen, warum sie den Job macht, den sie macht.
Absolut, das ist ein Kontinuum - und eine Unterrichtserfahrung aus meinen Kursen für Executives. 35- bis 50-jährige gestandene Kaderleute, Chef-Ärztinnen und Chef-Ärzte oder Anwältinnen und Anwälte besuchen diese Entrepreneurship-Kurse, weil sie immer noch etwas verändern wollen, hungrig auf etwas Neues sind. Handkehrum scheint es, man kann nur dann in einem Beruf bleiben, wenn er den eigenen Wertekanon widerspiegelt. Sonst kommt die Frage nach dem "warum": Warum mache ich das alles? Das ist kein esoterischer Spleen, sondern eine ganz praktische Frage, wie man Sinn und Zweck einer Tätigkeit mit sich verändernden Rahmenbedingungen in Einklang bringt. Als Entrepreneur kann ich das - und das macht es interessant und spannend.
Statistisch lässt sich das nicht belegen. Das ist eher ein Business-School-Stereotyp. Entrepreneurship studiert man nicht primär, um reich zu werden. Ein durchschnittlicher Angestellter in Hochlohnländern verdient mehr und hat mehr Job-Sicherheit. Es geht um das "why ". Studien legen nahe, dass Entrepreneurinnen und Entrepreneure im Durchschnitt glücklicher sind als Angestellte - obwohl Unternehmer viel mehr arbeiten und viel weniger Geld verdienen.
Möglich. Letzenendes stimmt halt vielleicht doch, was Bob Dylan einmal gesagt hat: "A man is a success if he gets up in the morning and goes to bed at night and in between does what he wants to do."
Zur Person
Dietmar Grichnik (Jahrgang 1968) hält den Lehrstuhl für Entrepreneurship und Technologiemanagement, am gleichnamigen Institut der Universität St. Gallen (HSG), das seit über einem Jahrzehnt Spin-offs und Start-ups stärkt und fördert. Auf Rektoratsebene dient Grichnik, der seine Karriere als Bankkaufmann startete, zudem als Prorektor für Innovation und Qualität. Seine Forschungsschwerpunkte sind Entrepreneurship, Innovation, Decision Science und Longevity Science.