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Market View & Insights
Das Übereinkommen von Paris und sein 1.5°-Ziel stehen für das globale Engagement gegen den Klimawandel - zu verdanken haben wir es ein paar kleinen Inselstaaten. Und Leon Charles aus Grenada.
Im letzten März machte der Präsident der 28. UN-Klimakonferenz (COP28), Sultan al-Jaber, weltweit Schlagzeilen, als er sich zu einer Begrenzung des weltweiten Temperaturanstiegs auf 1.5° Celsius gegenüber dem Vorindustriezeitalter verpflichtete.
Dies sei, wie er sagte, "schlicht und einfach unabdingbar". In den Monaten nach dieser Aussage erduldete die Welt jedoch neue Temperaturrekorde, verheerende Waldbrände und lückenhafte Dekarbonisierungsfortschritte.
Die Monate Juli, August und September 2023 waren die heissesten seit Beginn der Aufzeichnungen. Am alarmierendsten war der September - die Monatstemperaturen lagen im Schnitt 1.8° C höher als vor der Industrialisierung.
Das 1.5°-Ziel (vereinbart am Klimaabkommen von Paris 2015) stand selten auf schwächeren Füssen als heute, es ist aber nach wie vor der Oberbegriff für die weltweiten Bemühungen, der schleichend eintretenden Katastrophe zu entgehen. 1.5° - einerseits ein politisches Markenzeichen und andererseits ein Wahlslogan. Woher aber kommt dieses Ziel? Und ist es im Vorfeld der COP28 von November 2023 in Dubai noch realistisch?
Die Person, auf die ein Grossteil der weltweiten Bemühungen rund um das 1.5°-Klimaziel zurückgeht, heisst Leon Charles. Als Bewohner eines kleinen Inselstaats mit steigendem Meeresspiegel weiss er, was auf dem Spiel steht: Seine Heimat ist die Karibikinsel Grenada, wo er früher Geografielehrer war. Leon Charles erinnert sich genau, wie die Bauern auf der Insel in den 1990er-Jahren nach und nach realisierten, dass sich die Jahreszeiten verschoben und die Strände erodierten.
Nachdem er von der Schule ins Geschäftsleben gewechselt hatte, erhielt er 1999 eine Staatsstelle zur Koordination der Rolle von Grenada im UN-Klimarahmenabkommen. Das geschah im Anschluss an die 1995 in Berlin aufgenommenen COP-Gipfel der Vereinten Nationen. Leon Charles arbeitete sich tief in die Materie ein und realisierte angesichts der Lage auf seiner und weiteren Inseln, dass die Klimaziele der Welt zu bescheiden waren, um effektiv etwas zu bewirken.
Inzwischen standen 2°C als unangefochtene Obergrenze für den globalen Temperaturanstieg gegenüber dem Vorindustriezeitalter fest. Von Seiten der Klimawissenschaft wurde allerdings bereits prognostiziert, dass ein Anstieg in diesem Ausmass Katastrophen hervorrufen, und unter anderem ganze Inseln und Küstengebiete durch den Anstieg des Meeresspiegels verschlungen würden. Mehr extreme Wetterlagen, intensivere Waldbrände. Und die Welt würde sich einem Punkt annähern, an dem sich die Katastrophe selbst mit den drastischsten Einsätzen nicht länger rückgängig machen liesse.
Jedes der betroffenen Länder war zu machtlos für einen Alleingang; sie organisierten sich zu Dutzenden in einem neuen Verband: der Allianz der kleinen Inselstaaten (Alliance of Small Island States, AOSIS). Im Jahr 2006 übernahm Grenada den Vorsitz des Verbandes, und im Jahr 2008 nahm Leon Charles an der COP14 in Polen teil. Dort geschah es, dass er eine kühne Kampagne für ein neues 1.5°-Klimaziel einbrachte, mit dem Ziel, im Folgejahr in Kopenhagen offiziell angenommen zu werden.
Bald jedoch musste er realisieren, dass die mächtigen Ölstaaten und ihre Grossabnehmer seinen Eifer nicht teilten. "Die meisten Industriestaaten nahmen uns nicht ernst", sagte er mir anfangs dieses Jahres. "Sie erklärten uns, 2° Celsius reichten als Sicherheit aus. "
Angesichts des Widerstands zahlreicher Länder gelang es AOSIS nur, das 1.5°-Klimaziel in Kopenhagen 2009 als langfristiges Ziel durchzusetzen. Die am Kopenhagener Gipfel unterzeichnete Vereinbarung umfasste auch, das 1.5°-Ziel im Jahr 2015 erneut zu überprüfen, sofern die Wissenschaft stichhaltige Gründe lieferte. Leon Charles liess die Zeit für sich arbeiten: AOSIS erarbeitete sich neuen Support und publizierte neue Vergleichsstudien zu den Auswirkungen von 1.5° und 2.0° als Klimaziel.
Anlässlich des Pariser Klimagipfels im Jahr 2015 übernahm Grenada eine wesentliche Rolle bei der Ausarbeitung des rechtlich verbindlichen Pariser Klimaabkommens: Es legte die Obergrenze für die globale Erwärmung auf "deutlich unter 2° Celsius" fest und schrieb "Bemühungen" vor, um die Erwärmung auf 1.5° zu beschränken. "Damit hatte sich die Grundlage effektiv verschoben", wie Leon Charles kommentierte. "Wir verbuchten das als Sieg."
Ein Bericht des Weltklimarats (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) befand im Jahr 2018, dass sich das 1.5°-Klimaziel realisieren lasse, falls umgehend Massnahmen ergriffen würden. Seither sind fünf Jahre verstrichen – fünf Jahre ohne signifikante Massnahmen, dafür mit einem erschreckenden Temperaturanstieg. Mit jedem Jahr rückt das 1.5°-Klimaziel in weitere Ferne. Im laufenden Jahr überschritt die Erderwärmung dieses Ziel zeitweise bereits; der Durchschnittswert für die Erderwärmung liegt inzwischen bei 1.1° Celsius gegenüber dem Vorindustriezeitalter. Gleichzeitig erreichten die massgeblich für die Klimaerwärmung verantwortlichen CO2-Emissionen im Jahr 2022 einen neuen Höchststand. Dazu trug auch die Energiekrise im Anschluss an die russische Invasion der Ukraine das Ihrige bei.
Zahlreiche Wirtschaftsvertreterinnen und -vertreter sind der Ansicht, dass die verfügbaren Ressourcen besser für Anpassungen eingesetzt werden sollten, anstatt starrsinnig teure Massnahmen zur Erreichung eines unrealistischen Ziels zu verfolgen. Bill Gates und seine Wertpapierfirma Breakthrough Energy finanzieren Klimainnovationen. Er vertritt die Meinung, dass 1.5° Celsius ein unerreichbares Ziel darstellen und dass sich die Welt auf immer heissere Temperaturen einstellen sollte, ohne dabei die Klimaschutzmassnahmen zu vernachlässigen. Im September warnte der IPCC in einem neuen Bericht, dass "das Fenster für die Beschränkung der Erderwärmung auf 1.5° Celsius rapide schrumpft".
Andere Stimmen vertreten die Meinung, dass eine Lockerung des 1.5°-Klimaziels einem Aufgeben gleichkäme und den zögerlichen Nationen sowie den Energieunternehmen Ausreden böte, was uns auf lange Sicht teurer zu stehen käme. "Die Lösung kann nicht darin bestehen, das Ziel zu ändern", sagte Mark Howden, Vizepräsident des IPCC, im März gegenüber der Financial Times. "Nach wie vor müssen wir die Emissionen rascher verringern."
Trotz der beunruhigenden Aussichten wirkte Leon Charles auch nach 15 Jahren Einsatz im Interview mit mir besonnen und zuversichtlich. "Meine Arbeit kann man nur machen, wenn man pragmatisch veranlagt ist", sagte er. "Wenn ich auf das Jahr 2008 zurückblicke, als wir mit leeren Händen dastanden, sehe ich, dass der Fortschritt weitergeht."
Als der IPCC in seinem Bericht vor einem Monat erneut die Alarmglocken läutete, waren es einmal mehr die Stimmen der gefährdetsten Nationen, die im Vorfeld des COP-Gipfels für Konzentration auf die Sache sorgten. "Die Befunde und Empfehlungen des IPCC-Berichts müssen aufrütteln und zu überzeugenden Engagements führen", sagte der amtierende Präsident von AOSIS, Pa'olelei Luteru. Für ihn steht ebenso viel auf dem Spiel wie für Leon Charles: Samoa, sein Inselstaat im Südwestpazifik, muss sich an existenzielle Bedrohungen wie immer intensivere tropische Zyklone und Sturmfluten anpassen. An Orten wie diesen zählen Klimaziele am meisten.
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