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Eine Katastrophe naht, und wir reagieren mit Lethargie. Warum? Ein neues Buch sucht nach Erklärungen - und findet sie in der Politik.
Eine existenzielle Bedrohung, vor der Wissenschaftlerinnen und Forscher seit Jahrzehnten gewarnt haben, nähert sich langsam und unaufhaltsam. Das ist beängstigend, vor allem für jüngere Generationen. Aber was tun wir wirklich dagegen - abgesehen davon, dass wir vielleicht etwas mehr recyceln oder ein bisschen weniger fliegen? Unser Verhalten ist schizophren: Gleichzeitig panisch und gelangweilt.
In einem neuen und ungewöhnlichen Buch untersuchen zwei Akademiker und Vordenker, warum wir zwar um den Klimawandel wissen, jedoch nur selten Taten folgen lassen. Woher kommt diese klaffende Lücke? Dabei geht es den Autoren nicht um unmittelbare Aktionen wie Protestmärsche oder das Besprühen unbezahlbarer Aquarelle, sondern um das kollektive Versagen der Gesellschaft, sich hinter einer einheitlichen und vereinigenden, mitreissenden, ökologischen Bewegung zu organisieren.
"On the Emergence of an Ecological Class" ("Zur Entstehung einer ökologischen Klasse") stammt aus der Feder zweier Wissenschaftler: des renommierten französischen Philosophen und akademischen Universalgelehrten Bruno Latour und des jungen dänischen Soziologen Nikolaj Schultz. Für den in Paris lebenden Schultz war Latour, der im vergangenen Oktober im Alter von 75 Jahren verstarb, eine Art Mentor.
Schultz beschreibt den schmalen Band nicht als Essay oder Manifest, sondern als "ein Memorandum, zusammengefasst in einer Reihe von Diskussionspunkten. Wir glauben, dass grüne Aktivisten und Parteien sie nutzen und diskutieren könnten und sollten, wenn die politische Ökologie zu einer starken, autonomen und konsistenten politischen Ideologie werden soll - einer Ideologie, die mit den alten Ideologien, welche die vergangenen Jahrhunderte bestimmt haben, auf Augenhöhe konkurrieren kann." Die alten Ideologien, das sind z.B. Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus.
Die Wissenschaftler stellen eine gewisse Selbstgefälligkeit oder Naivität bei denjenigen fest, die sich für einen Wandel einsetzen. "Betrachten wir die Geschichte: Alle starken Ideologien und starken Parteien fussen auf Ideen", sagt Schultz. "Aber manchmal scheint es, dass die Klimabewegungen dachten, die Menschen würden einfach sofort handeln, sobald sie die Katastrophe kommen sehen - ganz ohne Ideologie."
Wie die beiden in ihrem Buch, das aus einer Reihe von 76 mundgerechten Argumenten besteht, schreiben: Der "politischen Ökologie" sei es bisher nur gelungen, "Herzen und Köpfe in Panik zu versetzen, während die Menschen gleichzeitig vor Langeweile gähnen."
Schultz ist nicht überrascht, dass eine Art ökologisches Klassenbewusstsein nur langsam Fuss fassen kann. Die Geschichte zeigt, dass die Entstehung eines solchen gesellschaftlichen Zusammenhalts dauert. Er vergleicht es mit der Entstehung der Arbeiterklasse: In seinem bahnbrechenden Buch von 1963, The Making of the English Working Class, beschrieb der sozialistische Historiker E.P. Thompson, wie dieser Prozess gut hundert Jahre dauerte. "Natürlich ist unser Problem heute, dass wir nicht so viel Zeit haben", so Schultz.
Um einen gesellschaftlichen Wendepunkt zu erreichen, an dem sich eine Art ökologische Klasse etablieren würde, müssten die Hauptakteure, einschliesslich Ökologen und Ökologinnen sowie grüne Parteien, eine rasche Aufholjagd starten. Laut Schultz sollten wir aus den Geschichtsbüchern lernen. "Vielleicht müsste man als Erstes lernen, überhaupt eine Ideologie zu kreieren - einschliesslich eines ganzen Systems von Ideen, Vorstellungen und Visionen für die Gesellschaft, einer eigenen Ästhetik, eigenen Bildern und so weiter… All die Dinge, welche die Menschen unmittelbar politisch betroffen machen und sie für politische Aktionen mobilisieren. Die grüne Partei und die Ökologen im Allgemeinen haben nicht die ganze Arbeit - philosophisch, soziologisch, kulturell - geleistet, die nötig ist, um ein solches Inventar zu schaffen."
Auf dem Weg dorthin wird es Hürden geben, von denen sich einige jedoch als Chancen erweisen könnten. So wird in dem Buch beispielsweise argumentiert, dass die aufstrebende ökologische Klasse versucht, sich ihrer selbst bewusst zu werden, während die Politik immer stärker zersplittert und gespalten auftritt. "Genau in dem Moment, in dem wir massiv mehr politische Energie benötigen, fehlt diese, weil sie nicht kultiviert wurde", schreiben sie und beschreiben die "entsetzliche Leere des öffentlichen Raums". Doch sie argumentieren auch, dass diese Leere darauf wartet, gefüllt zu werden - von unten, von der Basis.
Ein Hauch von Optimismus zieht sich durch das Buch, in dem es nicht darum geht, warum eine ökologische Klasse entstehen könnte, sondern, wie eine solche entsteht - und zwar schnell - auch wenn wir, wie die Autoren schreiben, die Entstehung nur "durch einen dichten Nebel hindurch erahnen können".
Teile des Werks fühlen sich zu abstrakt an: Schultz gibt ein Beispiel dafür, wo ökologische Klassenallianzen bereits zu erkennen sind. Er verbrachte Weihnachten in seiner Heimatstadt Aarhus in Dänemark. Dort versammeln und organisieren sich verschiedenste gesellschaftliche Gruppen, um sich gegen den Ausbau des Industriehafens zu wehren, da die Menschen negative Auswirkungen befürchten - auf das Meeresleben, die Kohlenstoffemissionen, die Luftverschmutzung und die beliebten Freizeiteinrichtungen, einschliesslich des Strandes.
"Diese Gruppe Menschen entspricht nicht der traditionellen Kategorie der 'sozialen Klasse'. Es handelt sich um eine völlig heterogene Menge, die jedoch aufgrund ihres gemeinsamen Interesses an der Begrenzung [des Projekts, Anm. der Redaktion] und seiner zerstörerischen Folgen als eine Art geosoziales Kollektiv - eine weitere Unterteilung einer ökologischen Klasse - in Erscheinung tritt", erklärt Schultz. "Die Menschen definieren und positionieren sich also schon jetzt entlang neuer Konfliktlinien."
In seinem nächsten Buch, "Land Sickness", das noch in diesem Jahr erscheint, untersucht Schultz den Fall von Porquerolles, einer französischen Mittelmeerinsel, auf der verschiedenste Gemeinden mit Sorgen über die Auswirkungen des Massentourismus zusammenfinden. Früher war das grösste Hindernis für einen Wandel das Bewusstsein für die Dringlichkeit der ökologischen Gefahren. Das hat sich geändert: "Alle sind sich einig, dass die ökologische Frage die Frage unserer Zeit ist, und dass wir eine fruchtbare Beziehung zwischen der Politik, den Menschen und der Erde, die wir bewohnen, erarbeiten müssen", so Schultz.
Das Fazit des Buches stimmt hoffnungsvoll. Die Autoren sagen nicht, dass es zu viel anzupacken gebe und zu wenig Zeit bleibe, dem Klimawandel entgegenzuwirken. Stattdessen argumentieren sie, dass alles auf eine grosse Veränderung vorbereitet sei. "Wie Paul Veyne bemerkte, sind die grossen Umwälzungen manchmal so einfach wie die Bewegung, die ein Schlafender macht, wenn er sich im Bett umdreht..."
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