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Nachhaltigkeit

Was steckt hinter dem Earth Overshoot Day?

Sieben Monate Menschheit entsprechen zwölf Monaten Erde: Was der Earth Overshoot Day bedeutet, und warum er 1971 noch im Dezember stattfand.

Datum
Autor
Simon Usborne, Gastautor
Lesezeit
10 Minuten
Zwei Aktivistinnen kleben ein Pflaster auf einen Ballon, der aussieht wie eine Erde
Viele Länder haben keinen Overshoot Day, weil ihr ökologischer Fussabdruck pro Person kleiner ist als die globale Biokapazität pro Person. Andere erreichen ihren Overshoot bereits im Januar. © Niklas Grapatin/laif

Der erste August hat seinen festen Platz in der Weltgeschichte. Es war der Tag, an dem 1774 ein englischer Geistlicher den Sauerstoff entdeckte. 1914 war es der Tag, an dem Deutschland in den Ersten Weltkrieg eintrat. 1981 war es der Tag, an dem MTV sein erstes Musikvideo ausstrahlte: "Video Killed the Radio Star".
2024 fügen wir ein wichtiges Ereignis hinzu: Der erste August 2024 ist der Tag, an dem die Menschheit mehr natürliche Ressourcen verbraucht und mehr Abfall produziert hat, als unsere empfindliche Biosphäre in einem Zeitraum von zwölf Monaten ersetzen und aufnehmen kann.

Am sogenannten "Earth Overshoot Day" treten wir in eine gefährliche Periode nicht nachhaltigen Konsums ein, eine Art ökologische Kontoüberziehung. Und im Gegensatz zu anderen historischen Ereignissen ist dieser Tag alles andere als ein Fixpunkt: Über die Jahre hat er sich immer weiter nach vorne bewegt – schleichend, aber konstant, wie der steigende Meeresspiegel.

Grafik der Erdkugel mit den Overshoot Days pro Land 2024
Der Termin dient vor allem der Kommunikation: Der Overshoot Day ist ein aufsehenerregendes Datum, das alle auf einen Blick verstehen. © overshoot.footprintnetwork.org

Mit anderen Worten: "In nur sieben Monaten hat die Menschheit das verbraucht, wofür die Erde zwölf Monate braucht, um sich zu regenerieren", sagt das Global Footprint Network, die internationale Nachhaltigkeitsorganisation, die den Tag berechnet. Ihre Methodik ist komplex und umfasst die Analyse von Dutzenden von Datenströmen der UN und wissenschaftlicher Zeitschriften. Berechnet wird der Tag von der Ecological Footprint Initiative an der York University in Toronto, Kanada.

Im Wesentlichen berechnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Biokapazität des Planeten (d.h. die Ressourcen, die unsere Böden und Meere in einem Jahr produzieren können) und vergleichen sie mit unserem ökologischen Fussabdruck in einem bestimmten Jahr (vor allem dem Bedarf an Nahrungsmitteln und Wäldern, um unsere Kohlendioxidemissionen zu absorbieren), wobei Importe und Exporte berücksichtigt werden. Daraus ergibt sich eine Lücke, aus der ein Datum ermittelt wird.

Greenpeace Aktivistin neben einem Ballon in der Form eines Globus
Was viele nicht verstehen: "Mit dem Overshoot Day ist es wie mit dem Geld - wenn Sie etwas weniger ausgeben als im letzten Jahr, erhöhen Sie trotzdem Ihre finanziellen Schulden." © Niklas Grapatin/laif

Der Termin dient vor allem der Kommunikation: Der Overshoot Day ist ein aufsehenerregendes Datum, das alle auf einen Blick verstehen. "Es geht darum, die Menschen zu sensibilisieren und hoffentlich zum Umdenken zu bewegen, damit sie ihr Verhalten ändern, und gar Druck auf die Politik ausüben", so Ursula Finsterwald, LGT Head Group Sustainability Management.

1971 war der Earth Overshoot Day am 25. Dezember

Als das Netzwerk 2006 begann, Überschreitungstage bekannt zu geben, berechnete es auch vergleichbare Daten aus früheren Jahren, angefangen mit 1971. In jenem Jahr fiel der Overshoot-Day auf den 25. Dezember, also kurz vor Jahresende; die Menschheit lebte mehr oder weniger im Rahmen ihrer Möglichkeiten. 

Fische und Korallen in einem Ozean
Wie viel schuldet unser Land der Biosphäre? © Shutterstock/Ethan Daniels

Die Weltbevölkerung von damals war rund halb so gross wie heute. Dann blähte sie sich auf, der Verbrauch stieg, und wir traten in eine Periode der maximalen Karbonisierung ein. Die Lücke wurde grösser, das Datum verschob sich. Im Jahr 1981 war es der 20. November, 1991 der 20. Oktober. Im Jahr 2005 schlich er sich in den August und arbeitet sich bis heute durch den Monat.

Ursula Finsterwald Porträtfoto
"Es geht darum, die Menschen zu sensibilisieren", so Ursula Finsterwald, Head LGT Group Sustainability.

Und da die Daten, die das Netzwerk verwendet, auf Länderebene basieren, werden seit 1997 auch nationale Überschreitungstage erstellt. Diese sollen veranschaulichen, was passieren würde, wenn die ganze Welt so leben würde wie die Menschen in diesem Land, und sie zeigen die krassen Ungleichheiten in der Art und Weise auf, wie wir die Ressourcen nutzen. "Ich denke, dass die Überschreitungstage der Länder aussagekräftiger sind. Denn es gibt auch Länder, die nicht mehr als eine Erde pro Jahr verbrauchen", sagt Finsterwald. 

Tatsächlich haben viele Länder überhaupt keinen Tag, weil ihr ökologischer Fussabdruck pro Person kleiner ist als die globale Biokapazität pro Person: Sie sind nicht verschuldet. Sobald Länder in die roten Zahlen kommen, verdienen sie sich einen Platz auf dem Overshoot-Kalender, angefangen bei Ländern wie Guinea und Moldawien, die in den letzten paar Tagen des Jahres liegen. 

Wenn Krisen den Earth Overshoot Day verschieben

Hashtag Move the Date
© overshoot.footprintnetwork.org

Es überrascht vielleicht nicht, dass die ölproduzierenden Länder am unteren Ende der Rangliste stehen; die VAE, Kuwait und Bahrain sind im März im Defizit. Katar, das den frühesten Termin hat, schafft es nur bis zum 11. Februar. Die USA erreichen den 13. März, während die westeuropäischen Länder ihre Ressourcen alle schneller erschöpfen als die Welt insgesamt, von Belgien (23. März) bis zum Vereinigten Königreich (3. Juni).

Wie die Grafik zeigt, die das Netzwerk jedes Jahr aktualisiert, scheint der Vormarsch des Datums unaufhaltsam zu sein, und Mathis Wackernagel, der das Global Footprint Network 2003 mitbegründet hat, sagt, dass der Kampagnen-Hashtag #MoveTheDate kaum nennenswerte Ergebnisse gebracht hat, weder auf globaler noch auf nationaler Ebene.

Ironischerweise waren die einzigen grösseren Verschiebungen die Folge von Katastrophen, welche die Menschheit zwangen, ihren Konsum einzuschränken. So hat der Crash von 2008 das Datum nach hinten verschoben, während die Coronavirus-Pandemie den Overshoot-Day um mehr als drei Wochen verzögerte, vom 29. Juli 2019 auf den 22. August 2020. In den letzten zehn Jahren ist auch eine leichte Abflachung festzustellen.
 

Mathis Wackernagel bei einer Rede
Global Footprint Network Mitgründer Mathis Wackernagel sieht das grösste Potenzial, wenn ein wirtschaftlicher und nicht ein moralischer oder humaner Imperativ den Wandel motiviert © KEYSTONE/Anthony Anex

"Der Overshoot Day hat zu einigen Massnahmen geführt, aber ich glaube, was missverstanden wird, ist, dass es sich nicht nur um ein jährliches Ereignis handelt, sondern um einen kumulativen Effekt", sagt Wackernagel. "Es ist eine Defizitausgabe. Selbst wenn die Überschreitung ein wenig zurückgeht, erhöht sich der Druck und die Verschuldung auf die Biosphäre. Es ist wie mit dem Geld - wenn Sie etwas weniger ausgeben als im letzten Jahr, erhöhen Sie trotzdem Ihre finanziellen Schulden."

Das Netzwerk will nicht einfach eine existenzielle Krise in Zeitlupe aufzeichnen, sondern Lösungen anbieten und zum Handeln motivieren. Und diese Lösungen brauchen kaum vorgestellt zu werden. Länder wie Deutschland, die es geschafft haben, die Entwicklung ihrer Overshoot-Tage zumindest zu verlangsamen, sind dieselben, die zum Beispiel die Dekarbonisierung ihrer Energienetze in Angriff genommen haben. 

Ökonomische statt moralischer Motivation

Wackernagel sieht das grösste Potenzial, wenn ein wirtschaftlicher und nicht ein moralischer oder humaner Imperativ den Wandel motiviert, idealerweise bevor eine Stagflationsspirale einsetzt, die durch steigende Inflation und verlangsamtes Wachstum aufgrund der Ressourcenerschöpfung verursacht wird. "Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie Länder erfolgreich sein können, deren Strategie nicht die Ressourcensicherheit in den Mittelpunkt stellt, insbesondere angesichts des Ausmasses der Überschreitung", sagt er. 

Der Earth Overshoot Day ist in die Kritik geraten. Robert B. Richardson, ein Ökonom an der Michigan State University, sagte, die Berechnungen stützten sich unverhältnismässig stark auf den Kohlenstoff-Fussabdruck der Menschen, während die Auswirkungen der Landwirtschaft oder die Umweltfolgen des Landmissbrauchs, wie Bodenerosion und Nährstoffabfluss, unterschätzt würden. Er fragt sich, ob die Berechnungen die Erschöpfung der Ressourcen unterschätzen.

Doch auch kritische Stimmen unterstützen die Versuche des Netzes, komplexe Systeme zu quantifizieren und zu vereinfachen, um sie besser kommunizieren zu können. Wie Wackernagel es ausdrückt: "Overshoot wird erst unsere Intention oder eine Katastrophe beenden, und es liegt an uns zu entscheiden, was wir vorziehen."

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