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Lifestyle

Willkommen in den Bibliotheken der Zukunft

Die besten der neuen Bibliotheken sind heute Wohnzimmer des digitalen Zeitalters, in denen nicht nur gelesen wird, sondern in denen man sich auch trifft, kreativ ist, spielt und isst. Und dabei muss man noch nicht einmal mehr still sein.

Datum
Autor
Simon Usborne, Gastautor
Lesezeit
5 Minuten

Drei Streicher spielen in einem hohen offenen Raum. Rechts ein Bücherregal und ein Aquarium, Menschen posieren für ein Foto.
Stille war gestern. Moderne Stadtbibliotheken werden zu Erlebnisorten. © Deichman Bjørvika /Erik_Thallaug

Die grosse Bibliothek in Alexandria hat als das grösste Wissensarchiv der antiken Welt wesentlich dazu beigetragen, Ägypten als globales Zentrum der Forschung zu verankern. Sie war das Muster für Bibliotheken bis heute, und ihre grundlegende Funktion hat sich über Jahrtausende hinweg nicht verändert.

Bibliotheken wurden zu Aufbewahrungsorten für Informationen - zu von den Menschen mit bewundernder, stiller Ehrfurcht aufgesuchten Tempeln der Gelehrsamkeit. Die Vorstellung von Bibliotheken als feierlichen, von strengen Bibliothekaren bewachten Orten hat sich bis in die Gegenwart gehalten.

Daneben gibt es heute ein ganz anderes Bild, zumindest was Stadtbibliotheken betrifft. Indem sie so unterschiedliche Funktionen wie Rechtsberatung und 3D-Druck anbieten, definieren sie den Zweck der Bibliothek selbst völlig neu. Und einige neuere Bibliotheksgebäude sind auch architektonisch und gestalterisch atemberaubend.

Hier sind fünf faszinierende Beispiele neuer Bibliotheken.

De Krook, Gent, Belgien

Ein grosses modernes Gebäude in einer städtischen Strasse in der Dämmerung und mit einer Glasfassade mit horizontalen Lamellen.
Das mehrfach preisgekrönte Gebäude gehört zu den architektonischen Wahrzeichen von Gent und beherbergt auch ein Forschungszentrum für Nanoelektronik und Digitaltechnik. © De Krook/Eric Bouvier

Als die Mitarbeitenden der neuen Stadtbibliothek in Gent öffentlich dazu aufriefen, beim Einräumen der Bücher im neuen Gebäude zu helfen, war dies mehr als PR-Geste gemeint, denn als ernsthafte Bitte. Als jedoch Dutzende von Menschen in dem auffälligen Gebäude erschienen, das auf einem brachliegenden Gelände an einer Flussschleife der Schelde errichtet worden war, wurde dies als Beleg dafür gewertet, dass der neue Standort funktioniert. Die Bewohner der Stadt waren bereit für diesen für sie geschaffenen Raum.

Am Eröffnungswochenende im Jahr 2017 strömten mehr als 20'000 Besucherinnen und Besucher durch die Eingangstüren. Im Normalbetrieb sind es immer noch mehr als 4000 pro Tag. Sicher auch, weil die Bücher nur ein Teil dessen sind, was De Krook hinter der Stahl- und Glasfassade bietet.

Vier junge Männer spielen in einer Bibliothek Baritonsaxofon, E-Gitarre, Kontrabass und Schlagzeug vor Bücherregalen.
Konzerte, Vorträge, Filmvorführungen und mehr füllen die Veranstaltungskalender und tragen zum gesellschaftlichen Leben bei. © De Krook/Nathalie Samain

Die gemeinsam von der Stadt, der Universität Gent und dem renommierten belgischen Forschungs- und Entwicklungslabor imec konzipierte neue Stadtbibliothek beherbergt auch einen studentischen Radiosender, ein Sprachzentrum und einen Makerspace mit 3D-Druckern, Lasercuttern, Lötgeräten und Nähmaschinen. Zudem gibt es Gemeinschaftsprojekte und ein Beratungszentrum, in dem die Bewohner Auskünfte zu rechtlichen Fragen und zu Beschäftigungsmöglichkeiten erhalten.

Was man nicht erwarten mag: Diese erweiterte Definition der Bibliothek führte dazu, dass die Bücher in De Krook mehr Aufmerksamkeit bekommen als am alten Standort. Seit die Bibliothek zu einem kulturellen Zentrum und architektonischen Wahrzeichen wurde, ist die Buchausleihe um fast 10 % gestiegen.

Oodi Zentralbibliothek, Helsinki, Finnland

Modernes, langgezogenes Gebäude mit Vorplatz und Park. Die untere Hälfte aus Holz, die obere aus Glas mit einer Terrasse.
2019 wurde die Oodi Zentralbibliothek von einer internationalen Jury zur Öffentlichen Bibliothek des Jahres erkoren. © Oodi/Kuvio

Soweit kam es dann doch nicht. Saunieren bleibt eines der Dinge, die Besucherinnen und Besucher der Oodi ("die Ode") nicht tun können. Eröffnet wurde die vom preisgekrönten finnischen Architekturbüro ALA Architects entworfene Zentralbibliothek von Helsinki Ende 2017 - rechtzeitig zu den Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag der Unabhängigkeit Finnlands von Russland. Und sie ist Ausdruck für den Stolz Finnlands, eine der höchsten Alphabetisierungsraten der Welt zu haben.

In einem geschlossenen Raum mit hohen, orangen Sitzen liest eine Frau zwei Kindern aus einem Buch vor.
Spiel und Wissen vereint: Im Kinderbereich führt eine Geheimtür in einen nestartigen Geschichtenraum. © Oodi/Tuomas Uusheimo

In den ersten vier Monaten nach der Eröffnung strömten mehr als eine Million Menschen durch das aus finnischem Fichtenholz und Glas bestehende Bauwerk und bewunderten die luftige Oodi, in der die Bücher im obersten Stockwerk, dem "Bücherhimmel", einen Ehrenplatz einnehmen.

Sie krönen einen riesigen Raum, der für zahlreiche Angebote genutzt wird. Dazu gehören nebst einem Café Studios für Musik- und Filmproduktion, ein Kino, Arbeits-, Tagungs- und Veranstaltungsräume, Computer- und Brettspielbereiche, einen Kinderbereich und eine urbane Werkstatt mit Zugang zu Geräten wie 3D-Druckern, Nähmaschinen und Folienschneidern. Bei diesem vielfältigen Angebot erstaunt es nicht, dass die Oodi in diesem Jahr ihren 10-millionsten Besucher begrüssen konnte.

Dokk1, Aarhus, Dänemark

Ein grosses modernes Gebäude mit versetzten Ebenen und grossem Vorplatz mit Fahrradständern und Fahrrädern.
Als das "Überdenken und Innovieren von Bibliotheksräumen und -dienstleistungen" definieren die öffentlichen Bibliotheken von Aarhus das Kernstück ihrer Strategie. © Dokk1

Die grösste Bibliothek Skandinaviens liegt an der Mündung des Flusses Aarhus in den Hafen der gleichnamigen dänischen Stadt. Das auffällige Gebäude hat weder eine klar erkennbare Vorder- oder Rückseite noch wuchtige Türen. Nachts scheint sein weit vorragendes Dachgeschoss auf den gläsernen Flanken zu schweben, ein weithin sichtbares Zeichen dieses riesigen, gleichermassen einladenden wie monumentalen Zentrums.

Dokk1 wurde 2015 als Teil einer umfassenden Erneuerung der zweitgrössten Stadt Dänemarks, knapp 200 km nordwestlich von Kopenhagen, eröffnet. Seine unkonventionelle Form - aus der Vogelperspektive sieht das Gebäude wie ein unregelmässiges Siebeneck aus - bietet den Besucherinnen und Besuchern einen 360-Grad-Blick auf den Hafen, die Stadt und den umliegenden Wald.

Das vom dänischen Architekturbüro Schmidt Hammer Lassen entworfene Dokk1 wurde von einem Projektpartner als "nicht nur ein Gebäude" beschrieben. Es sei "ein Ort für den Austausch von Wissen und Möglichkeiten, ein multikultureller Treffpunkt, der die Wahrnehmung der gesamten Stadt verändern wird".

Auch die grösste Röhrenglocke der Welt, die über dem weitläufigen Foyer im Erdgeschoss hängt, verbindet die Bibliothek mit der städtischen Gesellschaft. Das drei Tonnen schwere Stahlrohr läutet, wenn in der Stadt ein Baby geboren wird.

In einem hellen hohen Raum sitzen viele Menschen an Tischen. Über ihnen hängt eine grosse Metallröhre von der Decke.
Eine rührende Tradition: Jedes Mal, wenn im Krankenhaus von Aarhus ein Kind geboren wird, läutet die grosse röhrenförmige Glocke in der Dokk1, um das neue Leben willkommen zu heissen. © Dokk1

Für Kinder gibt es Spielplätze und Aktivitäten im Innen- und Aussenbereich, und das Gebäude verfügt über eine Reihe von Gemeinschaftseinrichtungen, die über die Ausleihe von Bibliotheken hinausgehen, wie zum Beispiel einen Bürgerservice, Arbeitsräume, Sitzungszimmer, Bühnen und ein Café. 2016 wurde Dokk1 von der International Federation of Library Associations and Institutions als Stadtbibliothek des Jahres ausgezeichnet.

Deichman Bjørvika, Oslo, Norwegen

Als der norwegische Bergbauunternehmer dänischer Abstammung 1780 starb, war Carl Deichman einer der bedeutendsten Büchersammler Europas. Seine 6000 Bücher sowie Manuskripte, Landkarten, Antiquitäten und Münzen umfassende Bibliothek vermachte er der Stadt Oslo. Fünf Jahre später öffnete die Deichman-Bibliothek ihre Pforten.

Ein grosses Gebäude mit Glasfassade und vertikalen Lamellen. Vom Vorplatz mit Menschen führt eine breite Treppe zum Wasser.
Philanthropie im 18. Jahrhundert: Durch seine Schenkung an die Stadt Oslo ermöglichte Carl Deichmann einer breiten Öffentlichkeit Zugang zu Wissen und Literatur. © Deichman Bjørvika /Erik_Thallaug

Die jüngste ihrer mittlerweile mehr als 20 Zweigstellen wurde 2020 im Stadtteil Bjørvika am Hafen von Oslo und direkt gegenüber der Oper eröffnet. Deichman selbst wäre erstaunt, seine ehemalige Sammlung in einem Gebäude mit fünf gläsernen Geschossen vorzufinden, dessen oberste Etage weit zum Vorplatz hin auskragt. 

Ein junger Mann mit schwarzer Mütze und rotem Oberteil bedient eine Nähmaschine mit beigen Garnrollen.
Noch bis vor einigen Jahren unvorstellbar - heute gehören Nähmaschinen und andere Worker-Space-Utensilien zu den Angeboten vieler moderner Stadtbibliotheken. © Deichman Bjørvika /Erik_Thallaug

Das lichtdurchflutete Gebäude beherbergt fast eine halbe Million Bücher. An Musik Interessierte können Instrumente ausprobieren oder ausleihen. Ein eigenes Stockwerk ist für Kinder bestimmt und auch hier gibt es ein Kino, ein Auditorium, ein Restaurant und Arbeitsräume.

Das von den Architekturbüros Atelier Oslo und Lund Hagem entworfene Deichman Bjørvika beherbergt mit der "Future Library" der schottischen Künstlerin Katie Paterson ein innovatives, zukunftsgerichtetes Projekt: Bis zum Jahr 2114 wird der Bibliothek jedes Jahr ein Schriftsteller ein versiegeltes Manuskript übergeben. Es wird - eingeschlossen in einer Stahlkassette - in einer wellenförmigen Holzinstallation im "Raum der Stille" aufbewahrt.

Niemand wird eines dieser 100 Manuskripte lesen, bevor sie 2114 geöffnet und in der Bibliothek ausgestellt werden. Und wer weiss, wie sehr sich bis dahin unsere Vorstellungen davon, was eine Bibliothek sein oder wie sie aussehen sollte, verändert haben werden?

Tianjin Binhai-Bibliothek, Tianjin, China

Über weite Strecken dieses Jahrhunderts war China ein Labor für Architektur, das die Grenzen von Funktion, Geschmack und Budget sprengt. Es ist schwer vorstellbar, dass eine andere Stadt als Peking ein so aussergewöhnliches Stadion wie das für die Olympischen Spiele 2008 gebaute "Vogelnest" errichten würde.

Ein modernes Gebäude mit Glasflächen und horizontalen Lamellen. Durch die Glasfront sieht man eine beleuchtete Kugel im Innern.
Spiel mit der Architektur: Durch ein Auge sieht man auf "Das Auge". © Tianjin Binhai/Ossip van Duivenbode

2017 zeigte die Stadt Tianjin an der Nordostküste Chinas, nicht weit von Peking entfernt, mit der neuen Bibliothek in ihrem Binhai-Kulturzentrum eine weitere verblüffende Neuinterpretation etablierter Formen. Das auf einem ehemaligen Industriegelände errichtete Kultur- und Tourismuszentrum erhielt schnell den Spitznamen "Das Auge". In der Mitte ihres Atriums befindet sich ein riesiges kugelförmiges Objekt, das wie ein Augapfel aussieht und das man auch vom Park aus durch eine augenförmige Öffnung sehen kann. 

Diese leuchtende Kugel ist nicht nur ein Eyecatcher, sondern auch ein Auditorium, in dem 100 Personen Platz finden. Rund um das riesige, kathedralenartige Atrium verteilt die Bibliothek Bücher auf Borden, die sich terrassenartig an die Wand schmiegen. Weitere Bücher sind in den Räumen des Gebäudes untergebracht. Bei einer Gesamtkapazität von 1.2 Millionen Bänden hat die Büchersammlung noch erhebliche Wachstumsmöglichkeiten.

Futuristische Bibliothek mit zentraler leuchtender Kugel, wellenförmigen Wänden und terrassenartigen Bücherregalen.
"Das Auge". Einfach wirken lassen. © Tianjin Binhai/Ossip van Duivenbode

Nachdem Bilder des vom niederländischen Büro MVRDV entworfenen Gebäudes in den sozialen Medien die Runde gemacht hatten, bildeten sich bei der Eröffnung 2017 lange Schlangen. Neben dem Bücherangebot bietet das Gebäude auch Besprechungs- und Leseräume, Computerbereiche, Aufenthaltsräume und einen direkt im Erdgeschoss gelegenen Kinderbereich.

Die Eröffnung der Bibliothek verlief jedoch nicht ohne Probleme. Der aufgestellte Zeitplan - das Gebäude sollte von der Planung bis zur Eröffnung in nur drei Jahren fertiggestellt sein - war nicht einzuhalten. Es entfielen einige oben gelegene Räume, und damit bleibt den Besucherinnen und Besuchern auch der Zugang zu den höher gelegenen Buchregalen verwehrt. Entsprechend gibt es dort oben keine Bücher zu sehen, sondern aus Aluminium hergestellte Attrappen von Buchrücken.

Über den Autor

Simon Usborne ist freiberuflicher Journalist und Redakteur in London, wo er für grosse britische Zeitungen schreibt.

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